Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783.
Meine zweite Einbildung bestand darinn, daß ich von der ganzen Welt gehaßt und verfolgt werde, alle meine Freunde haben von mir abgelassen, alle meine Kunden auf mich Verzicht gethan, und der ganze übrige Theil der Menschen mich verachtet, oder mit den gleichgültigsten Augen angesehn. Die Ursache dieser Phantasie war vermuthlich, weil ich keinen von meinen vertrautesten Freunden um mich sah. F.. r war in Leipzig. W.. war zu delicat, um sich in einer Krankenstube aufzuhalten, und M.. n war selbst schwächlich. Dies kam zu dem Mißtrauen, das, wie meine Freunde mir versichern, in gesunden Tagen schon mir gegen die Welt eigen war. Jndessen war diese Vorstellung mir lange nicht so viel Marter als die vorige. Sie wirkte bei mir eine Gegenverachtung meiner Verächter; eine verzweifelnde Ruhe, und ein Verlangen nach dem Tode, als nach dem erwünschungswerthesten Zustande. Daher kam es, daß so oft (und es war sehr oft) bei überfallenden Schwächen, oder bei einem sonstigen innren Gefühle ich die Annäherung des Todes glaubte, ich ruhig und zufrieden lag, voller Erwartung des entscheidenden Augenblicks, der endlich den Knoten zwischen mir
Meine zweite Einbildung bestand darinn, daß ich von der ganzen Welt gehaßt und verfolgt werde, alle meine Freunde haben von mir abgelassen, alle meine Kunden auf mich Verzicht gethan, und der ganze uͤbrige Theil der Menschen mich verachtet, oder mit den gleichguͤltigsten Augen angesehn. Die Ursache dieser Phantasie war vermuthlich, weil ich keinen von meinen vertrautesten Freunden um mich sah. F.. r war in Leipzig. W.. war zu delicat, um sich in einer Krankenstube aufzuhalten, und M.. n war selbst schwaͤchlich. Dies kam zu dem Mißtrauen, das, wie meine Freunde mir versichern, in gesunden Tagen schon mir gegen die Welt eigen war. Jndessen war diese Vorstellung mir lange nicht so viel Marter als die vorige. Sie wirkte bei mir eine Gegenverachtung meiner Veraͤchter; eine verzweifelnde Ruhe, und ein Verlangen nach dem Tode, als nach dem erwuͤnschungswerthesten Zustande. Daher kam es, daß so oft (und es war sehr oft) bei uͤberfallenden Schwaͤchen, oder bei einem sonstigen innren Gefuͤhle ich die Annaͤherung des Todes glaubte, ich ruhig und zufrieden lag, voller Erwartung des entscheidenden Augenblicks, der endlich den Knoten zwischen mir <TEI> <text> <body> <div> <div> <p><pb facs="#f0062" n="58"/><lb/> Das Wiehern eines Pferdes auf der Straße, in einen Stall, und der uͤble Geruch meines Schweißes, oder stockenden Blutes in meiner Nase, davon bestaͤndig eine Menge abging, auf eine Grabstaͤte. </p> <p>Meine zweite Einbildung bestand darinn, daß ich von der ganzen Welt gehaßt und verfolgt werde, alle meine Freunde haben von mir abgelassen, alle meine Kunden auf mich Verzicht gethan, und der ganze uͤbrige Theil der Menschen mich verachtet, oder mit den gleichguͤltigsten Augen angesehn. Die Ursache dieser Phantasie war vermuthlich, weil ich keinen von meinen vertrautesten Freunden um mich sah. F.. r war in Leipzig. W.. war zu delicat, um sich in einer Krankenstube aufzuhalten, und M.. n war selbst schwaͤchlich. Dies kam zu dem Mißtrauen, das, wie meine Freunde mir versichern, in gesunden Tagen schon mir gegen die Welt eigen war. Jndessen war diese Vorstellung mir lange nicht so viel Marter als die vorige. Sie wirkte bei mir eine Gegenverachtung meiner Veraͤchter; eine verzweifelnde Ruhe, und ein Verlangen nach dem Tode, als nach dem erwuͤnschungswerthesten Zustande. Daher kam es, daß so oft (und es war sehr oft) bei uͤberfallenden Schwaͤchen, oder bei einem sonstigen innren Gefuͤhle ich die Annaͤherung des Todes glaubte, ich ruhig und zufrieden lag, voller Erwartung des entscheidenden Augenblicks, der endlich den Knoten zwischen mir<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [58/0062]
Das Wiehern eines Pferdes auf der Straße, in einen Stall, und der uͤble Geruch meines Schweißes, oder stockenden Blutes in meiner Nase, davon bestaͤndig eine Menge abging, auf eine Grabstaͤte.
Meine zweite Einbildung bestand darinn, daß ich von der ganzen Welt gehaßt und verfolgt werde, alle meine Freunde haben von mir abgelassen, alle meine Kunden auf mich Verzicht gethan, und der ganze uͤbrige Theil der Menschen mich verachtet, oder mit den gleichguͤltigsten Augen angesehn. Die Ursache dieser Phantasie war vermuthlich, weil ich keinen von meinen vertrautesten Freunden um mich sah. F.. r war in Leipzig. W.. war zu delicat, um sich in einer Krankenstube aufzuhalten, und M.. n war selbst schwaͤchlich. Dies kam zu dem Mißtrauen, das, wie meine Freunde mir versichern, in gesunden Tagen schon mir gegen die Welt eigen war. Jndessen war diese Vorstellung mir lange nicht so viel Marter als die vorige. Sie wirkte bei mir eine Gegenverachtung meiner Veraͤchter; eine verzweifelnde Ruhe, und ein Verlangen nach dem Tode, als nach dem erwuͤnschungswerthesten Zustande. Daher kam es, daß so oft (und es war sehr oft) bei uͤberfallenden Schwaͤchen, oder bei einem sonstigen innren Gefuͤhle ich die Annaͤherung des Todes glaubte, ich ruhig und zufrieden lag, voller Erwartung des entscheidenden Augenblicks, der endlich den Knoten zwischen mir
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0102_1783/62>, abgerufen am 27.07.2024. |