Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite


der Seele, und ihr Abstraktionsvermögen hat um so vielmehr Schwierigkeiten zu überwinden. Und natürlich müssen diese Schwierigkeiten fast unüberwindlich in einem Zustande seyn, wo die sinnlichen Organen übermäßig gespannt sind, der Umlauf des Bluts durch das Gehirn, und folglich die Absonderung der Lebensgeister sehr schnell geschieht, und bei unmächtiger Willkühr tausend Jdeen immer bereit sind, sich mit den neuen zu verketten, und ihre Lebhaftigkeit zu vermehren, so entfernet auch ihre Verwandschaft mit dieser seyn mag. Dieß war der Fall bei mir. Die Grundidee war, man hat mich aus meinem Schlafzimmer weggebracht. Meine Sehnerven haben von Anfang an einen Druck gelitten; die Gegenstände des Gesichts, die mich allenfalls auch in meiner Studierstube an meine Heimat hätten erinnern können, wirkten auf das Organ zu schwach, ich sah alles dunkel, zerstümmelt oder verkehrt. Meine übrigen Organen hingegen waren um so mehr gespannt, Gehör, Geruch, und Gefühl waren ungemein scharf; ihre Gegenstände wirkten mit verstärkter Lebhaftigkeit, und es war also sehr leicht, daß die Vorstellungen, die sie hervorbrachten, mit der Hauptvorstellung: der örtlichen Veränderung meiner Gegenwart, sich zusammengesellten. Ein Ständchen bei meinem Nachbar, ein blasender Postillion, oder auch der Nachtwächter versetzten meinen Auffenthalt auf einen öffentlichen Platz, wo Musik und Tanz war.


der Seele, und ihr Abstraktionsvermoͤgen hat um so vielmehr Schwierigkeiten zu uͤberwinden. Und natuͤrlich muͤssen diese Schwierigkeiten fast unuͤberwindlich in einem Zustande seyn, wo die sinnlichen Organen uͤbermaͤßig gespannt sind, der Umlauf des Bluts durch das Gehirn, und folglich die Absonderung der Lebensgeister sehr schnell geschieht, und bei unmaͤchtiger Willkuͤhr tausend Jdeen immer bereit sind, sich mit den neuen zu verketten, und ihre Lebhaftigkeit zu vermehren, so entfernet auch ihre Verwandschaft mit dieser seyn mag. Dieß war der Fall bei mir. Die Grundidee war, man hat mich aus meinem Schlafzimmer weggebracht. Meine Sehnerven haben von Anfang an einen Druck gelitten; die Gegenstaͤnde des Gesichts, die mich allenfalls auch in meiner Studierstube an meine Heimat haͤtten erinnern koͤnnen, wirkten auf das Organ zu schwach, ich sah alles dunkel, zerstuͤmmelt oder verkehrt. Meine uͤbrigen Organen hingegen waren um so mehr gespannt, Gehoͤr, Geruch, und Gefuͤhl waren ungemein scharf; ihre Gegenstaͤnde wirkten mit verstaͤrkter Lebhaftigkeit, und es war also sehr leicht, daß die Vorstellungen, die sie hervorbrachten, mit der Hauptvorstellung: der oͤrtlichen Veraͤnderung meiner Gegenwart, sich zusammengesellten. Ein Staͤndchen bei meinem Nachbar, ein blasender Postillion, oder auch der Nachtwaͤchter versetzten meinen Auffenthalt auf einen oͤffentlichen Platz, wo Musik und Tanz war.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div>
          <p><pb facs="#f0061" n="57"/><lb/>
der Seele, und ihr                         Abstraktionsvermo&#x0364;gen hat um so vielmehr Schwierigkeiten zu u&#x0364;berwinden. Und                         natu&#x0364;rlich mu&#x0364;ssen diese Schwierigkeiten fast unu&#x0364;berwindlich in einem Zustande                         seyn, wo die sinnlichen Organen u&#x0364;berma&#x0364;ßig gespannt sind, der Umlauf des                         Bluts durch das Gehirn, und folglich die Absonderung der Lebensgeister sehr                         schnell geschieht, und bei unma&#x0364;chtiger Willku&#x0364;hr tausend Jdeen immer bereit                         sind, sich mit den neuen zu verketten, und ihre Lebhaftigkeit zu vermehren,                         so entfernet auch ihre Verwandschaft mit dieser seyn mag. Dieß war der Fall                         bei mir. Die Grundidee war, man hat mich aus meinem Schlafzimmer                         weggebracht. Meine Sehnerven haben von Anfang an einen Druck gelitten; die                         Gegensta&#x0364;nde des Gesichts, die mich allenfalls auch in meiner Studierstube an                         meine Heimat ha&#x0364;tten erinnern ko&#x0364;nnen, wirkten auf das Organ zu schwach, ich                         sah alles dunkel, zerstu&#x0364;mmelt oder verkehrt. Meine u&#x0364;brigen Organen hingegen                         waren um so mehr gespannt, Geho&#x0364;r, Geruch, und Gefu&#x0364;hl waren ungemein scharf;                         ihre Gegensta&#x0364;nde wirkten mit versta&#x0364;rkter Lebhaftigkeit, und es war also sehr                         leicht, daß die Vorstellungen, die sie hervorbrachten, mit der                         Hauptvorstellung: der o&#x0364;rtlichen Vera&#x0364;nderung meiner Gegenwart, sich                         zusammengesellten. Ein Sta&#x0364;ndchen bei meinem Nachbar, ein blasender                         Postillion, oder auch der Nachtwa&#x0364;chter versetzten meinen Auffenthalt auf                         einen o&#x0364;ffentlichen Platz, wo Musik und Tanz war.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[57/0061] der Seele, und ihr Abstraktionsvermoͤgen hat um so vielmehr Schwierigkeiten zu uͤberwinden. Und natuͤrlich muͤssen diese Schwierigkeiten fast unuͤberwindlich in einem Zustande seyn, wo die sinnlichen Organen uͤbermaͤßig gespannt sind, der Umlauf des Bluts durch das Gehirn, und folglich die Absonderung der Lebensgeister sehr schnell geschieht, und bei unmaͤchtiger Willkuͤhr tausend Jdeen immer bereit sind, sich mit den neuen zu verketten, und ihre Lebhaftigkeit zu vermehren, so entfernet auch ihre Verwandschaft mit dieser seyn mag. Dieß war der Fall bei mir. Die Grundidee war, man hat mich aus meinem Schlafzimmer weggebracht. Meine Sehnerven haben von Anfang an einen Druck gelitten; die Gegenstaͤnde des Gesichts, die mich allenfalls auch in meiner Studierstube an meine Heimat haͤtten erinnern koͤnnen, wirkten auf das Organ zu schwach, ich sah alles dunkel, zerstuͤmmelt oder verkehrt. Meine uͤbrigen Organen hingegen waren um so mehr gespannt, Gehoͤr, Geruch, und Gefuͤhl waren ungemein scharf; ihre Gegenstaͤnde wirkten mit verstaͤrkter Lebhaftigkeit, und es war also sehr leicht, daß die Vorstellungen, die sie hervorbrachten, mit der Hauptvorstellung: der oͤrtlichen Veraͤnderung meiner Gegenwart, sich zusammengesellten. Ein Staͤndchen bei meinem Nachbar, ein blasender Postillion, oder auch der Nachtwaͤchter versetzten meinen Auffenthalt auf einen oͤffentlichen Platz, wo Musik und Tanz war.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0102_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0102_1783/61
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0102_1783/61>, abgerufen am 04.12.2024.