Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783.
Was ich übrigens über den wahren Grund dieser Erscheinungen bei weiterem Nachdenken gefunden habe, befriedigt mich nicht völlig. Am allerwenigsten will ich wagen, das Gesetz, nach welchem sich überhaupt die Vorstellungen fixiren, in seinem ganzen Umfang zu bestimmen. Vielleicht dürfte es so ganz einfach nicht seyn. Jch will indessen meine Gedanken, so unvollkommen sie sind, niederschreiben. Alles, was die mir noch gegenwärtigen Erinnerungen aus meiner Kindheit gemein haben, läuft auf folgende zwei Punkte hinaus. Erstlich. Die meisten derselben betreffen Gegenstände, die lange und anhaltend auf meine Sinne würkten. Allein dieser Umstand erklärt doch im Grunde wenig oder nichts, weil unzählige andere Eindrücke, die eben so lange und anhaltend, und vielleicht mit größerer Stärke auf mich würkten, gänzlich verschwunden sind. Die längere Dauer, und öftere Wiederhohlung eines Eindrucks, kann also auch nichts weiter, als höchstens nur mitwirkende Ursache seyn. Zweitens. Von allen Vorstellungen und Empfindungen meiner Kindheit, scheint fast, bloß das meßbare, so weit es durchs Auge empfunden wird, bei mir sich fixirt zu haben. Und vielleicht führt diese Bemerkung etwas weiter als die erste.
Was ich uͤbrigens uͤber den wahren Grund dieser Erscheinungen bei weiterem Nachdenken gefunden habe, befriedigt mich nicht voͤllig. Am allerwenigsten will ich wagen, das Gesetz, nach welchem sich uͤberhaupt die Vorstellungen fixiren, in seinem ganzen Umfang zu bestimmen. Vielleicht duͤrfte es so ganz einfach nicht seyn. Jch will indessen meine Gedanken, so unvollkommen sie sind, niederschreiben. Alles, was die mir noch gegenwaͤrtigen Erinnerungen aus meiner Kindheit gemein haben, laͤuft auf folgende zwei Punkte hinaus. Erstlich. Die meisten derselben betreffen Gegenstaͤnde, die lange und anhaltend auf meine Sinne wuͤrkten. Allein dieser Umstand erklaͤrt doch im Grunde wenig oder nichts, weil unzaͤhlige andere Eindruͤcke, die eben so lange und anhaltend, und vielleicht mit groͤßerer Staͤrke auf mich wuͤrkten, gaͤnzlich verschwunden sind. Die laͤngere Dauer, und oͤftere Wiederhohlung eines Eindrucks, kann also auch nichts weiter, als hoͤchstens nur mitwirkende Ursache seyn. Zweitens. Von allen Vorstellungen und Empfindungen meiner Kindheit, scheint fast, bloß das meßbare, so weit es durchs Auge empfunden wird, bei mir sich fixirt zu haben. Und vielleicht fuͤhrt diese Bemerkung etwas weiter als die erste. <TEI> <text> <body> <div> <div> <p><pb facs="#f0094" n="90"/><lb/> aber fast gaͤnzlich verloschen sind, ist also gewiß weder Lebhaftigkeit noch Deutlichkeit derselben. </p> <p>Was ich uͤbrigens uͤber den wahren Grund dieser Erscheinungen bei weiterem Nachdenken gefunden habe, befriedigt mich nicht voͤllig. Am allerwenigsten will ich wagen, das Gesetz, nach welchem sich uͤberhaupt die Vorstellungen fixiren, in seinem ganzen Umfang zu bestimmen. Vielleicht duͤrfte es so ganz einfach nicht seyn. Jch will indessen meine Gedanken, so unvollkommen sie sind, niederschreiben. </p> <p>Alles, was die mir noch gegenwaͤrtigen Erinnerungen aus meiner Kindheit gemein haben, laͤuft auf folgende zwei Punkte hinaus. </p> <p>Erstlich. Die meisten derselben betreffen Gegenstaͤnde, die <hi rendition="#b">lange</hi> und <hi rendition="#b">anhaltend</hi> auf meine Sinne wuͤrkten. Allein dieser Umstand erklaͤrt doch im Grunde wenig oder nichts, weil unzaͤhlige andere Eindruͤcke, die eben so lange und anhaltend, und vielleicht mit groͤßerer Staͤrke auf mich wuͤrkten, gaͤnzlich verschwunden sind. <hi rendition="#b">Die laͤngere Dauer, und oͤftere Wiederhohlung eines Eindrucks, kann also auch nichts weiter, als hoͤchstens nur mitwirkende Ursache seyn.</hi></p> <p>Zweitens. Von allen Vorstellungen und Empfindungen meiner Kindheit, scheint fast, bloß das <hi rendition="#b">meßbare,</hi> so weit es durchs Auge empfunden wird, bei mir sich fixirt zu haben. Und vielleicht fuͤhrt diese Bemerkung etwas weiter als die erste. </p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [90/0094]
aber fast gaͤnzlich verloschen sind, ist also gewiß weder Lebhaftigkeit noch Deutlichkeit derselben.
Was ich uͤbrigens uͤber den wahren Grund dieser Erscheinungen bei weiterem Nachdenken gefunden habe, befriedigt mich nicht voͤllig. Am allerwenigsten will ich wagen, das Gesetz, nach welchem sich uͤberhaupt die Vorstellungen fixiren, in seinem ganzen Umfang zu bestimmen. Vielleicht duͤrfte es so ganz einfach nicht seyn. Jch will indessen meine Gedanken, so unvollkommen sie sind, niederschreiben.
Alles, was die mir noch gegenwaͤrtigen Erinnerungen aus meiner Kindheit gemein haben, laͤuft auf folgende zwei Punkte hinaus.
Erstlich. Die meisten derselben betreffen Gegenstaͤnde, die lange und anhaltend auf meine Sinne wuͤrkten. Allein dieser Umstand erklaͤrt doch im Grunde wenig oder nichts, weil unzaͤhlige andere Eindruͤcke, die eben so lange und anhaltend, und vielleicht mit groͤßerer Staͤrke auf mich wuͤrkten, gaͤnzlich verschwunden sind. Die laͤngere Dauer, und oͤftere Wiederhohlung eines Eindrucks, kann also auch nichts weiter, als hoͤchstens nur mitwirkende Ursache seyn.
Zweitens. Von allen Vorstellungen und Empfindungen meiner Kindheit, scheint fast, bloß das meßbare, so weit es durchs Auge empfunden wird, bei mir sich fixirt zu haben. Und vielleicht fuͤhrt diese Bemerkung etwas weiter als die erste.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0102_1783 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0102_1783/94 |
Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0102_1783/94>, abgerufen am 27.07.2024. |