Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783.Zur Seelenzeichenkunde. Beitrag zur Nebeneinanderstellung jugendlicher Charaktere. Heinrich, ein Knabe von acht bis neun Jahren, hat ein durch häufige Krankheiten sehr geschwächtes Nervensystem, und daher in seinem Aeussern nicht das mindeste Lebhafte. Sein Gang ist schleppend, und seine Sprache langsam und matt. Sein Blick ist ohne alles jugendliche Feuer, aber sehr sanft und ein treuer Schattenriß seines ruhigen, freundschaftlichen Herzens, das keine aufbrausenden Leidenschaften kennt, und sich an jeden seiner Bekannten, wenn ich so sagen darf, anschmiegt. Er liebt zwar Reinlichkeit und Ordnung, mag aber nicht gern selbst dafür sorgen; er ist gesellig und liebt das Spiel, macht aber selten Geräusch dabei. Entstehen Zänkereien zwischen ihm und seinen Geschwistern, so giebt er nach und kann sich nicht leicht beruhigen, wenn er jemanden gekränkt hat. Er thut fast alles, um gelobt zu werden; da er aber das verdiente Lob nicht von der Schmeichelei unterscheidet, so hat sein Ehrtrieb leider die rechte Spannung schon verloren, und ihn auf den Weg Zur Seelenzeichenkunde. Beitrag zur Nebeneinanderstellung jugendlicher Charaktere. Heinrich, ein Knabe von acht bis neun Jahren, hat ein durch haͤufige Krankheiten sehr geschwaͤchtes Nervensystem, und daher in seinem Aeussern nicht das mindeste Lebhafte. Sein Gang ist schleppend, und seine Sprache langsam und matt. Sein Blick ist ohne alles jugendliche Feuer, aber sehr sanft und ein treuer Schattenriß seines ruhigen, freundschaftlichen Herzens, das keine aufbrausenden Leidenschaften kennt, und sich an jeden seiner Bekannten, wenn ich so sagen darf, anschmiegt. Er liebt zwar Reinlichkeit und Ordnung, mag aber nicht gern selbst dafuͤr sorgen; er ist gesellig und liebt das Spiel, macht aber selten Geraͤusch dabei. Entstehen Zaͤnkereien zwischen ihm und seinen Geschwistern, so giebt er nach und kann sich nicht leicht beruhigen, wenn er jemanden gekraͤnkt hat. Er thut fast alles, um gelobt zu werden; da er aber das verdiente Lob nicht von der Schmeichelei unterscheidet, so hat sein Ehrtrieb leider die rechte Spannung schon verloren, und ihn auf den Weg <TEI> <text> <body> <div> <div> <pb facs="#f0112" n="108"/><lb/><lb/> </div> </div> <div> <head>Zur Seelenzeichenkunde. </head><lb/> <div> <head>Beitrag zur Nebeneinanderstellung jugendlicher Charaktere.</head><lb/> <note type="editorial"> <bibl> <persName ref="#ref122"><note type="editorial"/>Muͤller</persName> </bibl> </note> <p>Heinrich, ein Knabe von acht bis neun Jahren, hat ein durch haͤufige Krankheiten sehr geschwaͤchtes Nervensystem, und daher in seinem Aeussern nicht das mindeste Lebhafte. Sein Gang ist schleppend, und seine Sprache langsam und matt. Sein Blick ist ohne alles jugendliche Feuer, aber sehr sanft und ein treuer Schattenriß seines ruhigen, freundschaftlichen Herzens, das keine aufbrausenden Leidenschaften kennt, und sich an jeden seiner Bekannten, wenn ich so sagen darf, anschmiegt. </p> <p>Er liebt zwar Reinlichkeit und Ordnung, mag aber nicht gern selbst dafuͤr sorgen; er ist gesellig und liebt das Spiel, macht aber selten Geraͤusch dabei. Entstehen Zaͤnkereien zwischen ihm und seinen Geschwistern, so giebt er nach und kann sich nicht leicht beruhigen, wenn er jemanden gekraͤnkt hat. </p> <p>Er thut fast alles, um gelobt zu werden; da er aber das verdiente Lob nicht von der Schmeichelei unterscheidet, so hat sein Ehrtrieb leider die rechte Spannung schon verloren, und ihn auf den Weg<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [108/0112]
Zur Seelenzeichenkunde.
Beitrag zur Nebeneinanderstellung jugendlicher Charaktere.
Heinrich, ein Knabe von acht bis neun Jahren, hat ein durch haͤufige Krankheiten sehr geschwaͤchtes Nervensystem, und daher in seinem Aeussern nicht das mindeste Lebhafte. Sein Gang ist schleppend, und seine Sprache langsam und matt. Sein Blick ist ohne alles jugendliche Feuer, aber sehr sanft und ein treuer Schattenriß seines ruhigen, freundschaftlichen Herzens, das keine aufbrausenden Leidenschaften kennt, und sich an jeden seiner Bekannten, wenn ich so sagen darf, anschmiegt.
Er liebt zwar Reinlichkeit und Ordnung, mag aber nicht gern selbst dafuͤr sorgen; er ist gesellig und liebt das Spiel, macht aber selten Geraͤusch dabei. Entstehen Zaͤnkereien zwischen ihm und seinen Geschwistern, so giebt er nach und kann sich nicht leicht beruhigen, wenn er jemanden gekraͤnkt hat.
Er thut fast alles, um gelobt zu werden; da er aber das verdiente Lob nicht von der Schmeichelei unterscheidet, so hat sein Ehrtrieb leider die rechte Spannung schon verloren, und ihn auf den Weg
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