mende Seele auf, der er erzählen kann, was er gesehen oder gehört, und was er dabei empfunden hat. Freilich verschwindet der Eindruck, den der Anblick eines Elenden oder eine rührende Erzählung auf sein Herz gemacht hat, auch bald wieder, denn sein allzureizbares Nervensystem findet in jedem Augenblick einen anziehenden Gegenstand, der ihn zerstreuet. Daher ist die Reihe vernünftiger Vorstellungen, die er an sinnliche Eindrücke knüpft, gewöhnlich sehr kurz. Ueberhaupt mag er nicht gern lange nachdenken, und er wird sich sehr anstrengen müssen, wenn er es in irgend einer Wissenschaft, die viel abstraktes Denken erfordert, zu einiger Vollkommenheit bringen will. Desto ausdauernder ist er hingegen bei künstlichen Beschäftigungen, bei denen die Sinne im Spiel sind. So schnitzt er z.B. Pfeifen aus Schilf und Haberstroh, und bessert so lange, mit unglaublicher Geduld, daran, bis ihre Töne rein und seinem Ohr harmonisch werden. Er zeichnet oft halbe Tage lang, ohne vom Tische aufzustehen; seine Zeichnungen sind aber so, wie die kleinen Figuren, die er in Wachs poußirt, gemeiniglich bloße Kinder seiner Jmagination, denn er nimmt selten bei diesen Arbeiten ein Muster vor die Augen; daher entstehen denn oft die sonderbarsten Gestalten, deren Bedeutung er gemeiniglich erst erklären muß. Sein Ehrgeitz findet sich durch nichts so sehr beleidigt, als wenn diese seine Werke, oder seine oft zu kindischen Einfälle, etwa von seinen Ge-
mende Seele auf, der er erzaͤhlen kann, was er gesehen oder gehoͤrt, und was er dabei empfunden hat. Freilich verschwindet der Eindruck, den der Anblick eines Elenden oder eine ruͤhrende Erzaͤhlung auf sein Herz gemacht hat, auch bald wieder, denn sein allzureizbares Nervensystem findet in jedem Augenblick einen anziehenden Gegenstand, der ihn zerstreuet. Daher ist die Reihe vernuͤnftiger Vorstellungen, die er an sinnliche Eindruͤcke knuͤpft, gewoͤhnlich sehr kurz. Ueberhaupt mag er nicht gern lange nachdenken, und er wird sich sehr anstrengen muͤssen, wenn er es in irgend einer Wissenschaft, die viel abstraktes Denken erfordert, zu einiger Vollkommenheit bringen will. Desto ausdauernder ist er hingegen bei kuͤnstlichen Beschaͤftigungen, bei denen die Sinne im Spiel sind. So schnitzt er z.B. Pfeifen aus Schilf und Haberstroh, und bessert so lange, mit unglaublicher Geduld, daran, bis ihre Toͤne rein und seinem Ohr harmonisch werden. Er zeichnet oft halbe Tage lang, ohne vom Tische aufzustehen; seine Zeichnungen sind aber so, wie die kleinen Figuren, die er in Wachs poußirt, gemeiniglich bloße Kinder seiner Jmagination, denn er nimmt selten bei diesen Arbeiten ein Muster vor die Augen; daher entstehen denn oft die sonderbarsten Gestalten, deren Bedeutung er gemeiniglich erst erklaͤren muß. Sein Ehrgeitz findet sich durch nichts so sehr beleidigt, als wenn diese seine Werke, oder seine oft zu kindischen Einfaͤlle, etwa von seinen Ge-
<TEI><text><body><div><div><p><pbfacs="#f0114"n="110"/><lb/>
mende Seele auf, der er erzaͤhlen kann, was er gesehen oder gehoͤrt, und was er dabei empfunden hat. Freilich verschwindet der Eindruck, den der Anblick eines Elenden oder eine ruͤhrende Erzaͤhlung auf sein Herz gemacht hat, auch bald wieder, denn sein allzureizbares Nervensystem findet in jedem Augenblick einen anziehenden Gegenstand, der ihn zerstreuet. Daher ist die Reihe vernuͤnftiger Vorstellungen, die er an sinnliche Eindruͤcke knuͤpft, gewoͤhnlich sehr kurz. Ueberhaupt mag er nicht gern lange nachdenken, und er wird sich sehr anstrengen muͤssen, wenn er es in irgend einer Wissenschaft, die viel abstraktes Denken erfordert, zu einiger Vollkommenheit bringen will. Desto ausdauernder ist er hingegen bei kuͤnstlichen Beschaͤftigungen, bei denen die Sinne im Spiel sind. So schnitzt er z.B. Pfeifen aus Schilf und Haberstroh, und bessert so lange, mit unglaublicher Geduld, daran, bis ihre Toͤne rein und seinem Ohr harmonisch werden. Er zeichnet oft halbe Tage lang, ohne vom Tische aufzustehen; seine Zeichnungen sind aber so, wie die kleinen Figuren, die er in Wachs poußirt, gemeiniglich bloße Kinder seiner Jmagination, denn er nimmt selten bei diesen Arbeiten ein Muster vor die Augen; daher entstehen denn oft die sonderbarsten Gestalten, deren Bedeutung er gemeiniglich erst erklaͤren muß. Sein Ehrgeitz findet sich durch nichts so sehr beleidigt, als wenn diese seine Werke, oder seine oft zu kindischen Einfaͤlle, etwa von seinen Ge-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[110/0114]
mende Seele auf, der er erzaͤhlen kann, was er gesehen oder gehoͤrt, und was er dabei empfunden hat. Freilich verschwindet der Eindruck, den der Anblick eines Elenden oder eine ruͤhrende Erzaͤhlung auf sein Herz gemacht hat, auch bald wieder, denn sein allzureizbares Nervensystem findet in jedem Augenblick einen anziehenden Gegenstand, der ihn zerstreuet. Daher ist die Reihe vernuͤnftiger Vorstellungen, die er an sinnliche Eindruͤcke knuͤpft, gewoͤhnlich sehr kurz. Ueberhaupt mag er nicht gern lange nachdenken, und er wird sich sehr anstrengen muͤssen, wenn er es in irgend einer Wissenschaft, die viel abstraktes Denken erfordert, zu einiger Vollkommenheit bringen will. Desto ausdauernder ist er hingegen bei kuͤnstlichen Beschaͤftigungen, bei denen die Sinne im Spiel sind. So schnitzt er z.B. Pfeifen aus Schilf und Haberstroh, und bessert so lange, mit unglaublicher Geduld, daran, bis ihre Toͤne rein und seinem Ohr harmonisch werden. Er zeichnet oft halbe Tage lang, ohne vom Tische aufzustehen; seine Zeichnungen sind aber so, wie die kleinen Figuren, die er in Wachs poußirt, gemeiniglich bloße Kinder seiner Jmagination, denn er nimmt selten bei diesen Arbeiten ein Muster vor die Augen; daher entstehen denn oft die sonderbarsten Gestalten, deren Bedeutung er gemeiniglich erst erklaͤren muß. Sein Ehrgeitz findet sich durch nichts so sehr beleidigt, als wenn diese seine Werke, oder seine oft zu kindischen Einfaͤlle, etwa von seinen Ge-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien
(2015-06-09T11:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat
(2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2015-06-09T11:00:00Z)
Weitere Informationen:
Anmerkungen zur Transkription:
Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.
Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783/114>, abgerufen am 17.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.