Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783.V. Einige Reflexionen über den vorhergehenden Aufsatz. ![]() Der Unglückliche, der dieß schrieb, schickte Sonntags den 18ten May 1783 seine Frau in die Kirche, schrieb den Schluß seines vorstehenden Vermächtnisses, nahm ein Scheermesser, schnitt sich in den Hals, und verfehlte den Tod. Er öfnete sich die Handadern, und verfehlte ihn noch; darauf trat er ans Fenster, sah seine Gattin aus der Kirche kommen, floh zurück, nahm einen Hirschfänger, und durchstieß sich die linke Herzkammer. Da lag er noch blutend, als seine Frau zu ihm ins Zimmer trat, sah sie an und verschied. Du bebest, Leser! wohl bebe! das ist der Mensch. Vernunft und Unsinn führen ihn so oft zu demselben Punkte. Aber verweile noch bei dem blutenden Leichnam. Es liegt kein Werther vor dir, der einem Mannsleben ein Knabenende machte, weil er sich in eines andern Weib vergaft hatte. Ein Mann hat sich in den Staub gestreckt, der Edelmuth und Nachdenken besaß, lange seinen Entschluß überlebte, und mit festem Schritte aus der Welt gieng. Dieser Tod ist werth des Anschauens des Weisen, werth der Betrachtung des Seelenarztes; was V. Einige Reflexionen uͤber den vorhergehenden Aufsatz. ![]() Der Ungluͤckliche, der dieß schrieb, schickte Sonntags den 18ten May 1783 seine Frau in die Kirche, schrieb den Schluß seines vorstehenden Vermaͤchtnisses, nahm ein Scheermesser, schnitt sich in den Hals, und verfehlte den Tod. Er oͤfnete sich die Handadern, und verfehlte ihn noch; darauf trat er ans Fenster, sah seine Gattin aus der Kirche kommen, floh zuruͤck, nahm einen Hirschfaͤnger, und durchstieß sich die linke Herzkammer. Da lag er noch blutend, als seine Frau zu ihm ins Zimmer trat, sah sie an und verschied. Du bebest, Leser! wohl bebe! das ist der Mensch. Vernunft und Unsinn fuͤhren ihn so oft zu demselben Punkte. Aber verweile noch bei dem blutenden Leichnam. Es liegt kein Werther vor dir, der einem Mannsleben ein Knabenende machte, weil er sich in eines andern Weib vergaft hatte. Ein Mann hat sich in den Staub gestreckt, der Edelmuth und Nachdenken besaß, lange seinen Entschluß uͤberlebte, und mit festem Schritte aus der Welt gieng. Dieser Tod ist werth des Anschauens des Weisen, werth der Betrachtung des Seelenarztes; was <TEI> <text> <body> <div> <div> <pb facs="#f0044" n="40"/><lb/><lb/> </div> <div> <head><hi rendition="#aq">V</hi>. Einige Reflexionen uͤber den vorhergehenden Aufsatz.</head><lb/> <note type="editorial"> <bibl> <persName ref="#ref116"><note type="editorial"/>Glave, Carl George Gottfried</persName> </bibl> </note> <p>Der Ungluͤckliche, der dieß schrieb, schickte Sonntags den 18ten May 1783 seine Frau in die Kirche, schrieb den Schluß seines vorstehenden Vermaͤchtnisses, nahm ein Scheermesser, schnitt sich in den Hals, und verfehlte den Tod. Er oͤfnete sich die Handadern, und verfehlte ihn noch; darauf trat er ans Fenster, sah seine Gattin aus der Kirche kommen, floh zuruͤck, nahm einen Hirschfaͤnger, und durchstieß sich die linke Herzkammer. Da lag er noch blutend, als seine Frau zu ihm ins Zimmer trat, sah sie an und verschied. </p> <p>Du bebest, Leser! wohl bebe! das ist der Mensch. Vernunft und Unsinn fuͤhren ihn so oft zu demselben Punkte. Aber verweile noch bei dem blutenden Leichnam. Es liegt kein Werther vor dir, der einem Mannsleben ein Knabenende machte, weil er sich in eines andern Weib vergaft hatte. Ein Mann hat sich in den Staub gestreckt, der Edelmuth und Nachdenken besaß, lange seinen Entschluß uͤberlebte, und mit festem Schritte aus der Welt gieng. </p> <p>Dieser Tod ist werth des Anschauens des Weisen, werth der Betrachtung des Seelenarztes; was<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [40/0044]
V. Einige Reflexionen uͤber den vorhergehenden Aufsatz.
Der Ungluͤckliche, der dieß schrieb, schickte Sonntags den 18ten May 1783 seine Frau in die Kirche, schrieb den Schluß seines vorstehenden Vermaͤchtnisses, nahm ein Scheermesser, schnitt sich in den Hals, und verfehlte den Tod. Er oͤfnete sich die Handadern, und verfehlte ihn noch; darauf trat er ans Fenster, sah seine Gattin aus der Kirche kommen, floh zuruͤck, nahm einen Hirschfaͤnger, und durchstieß sich die linke Herzkammer. Da lag er noch blutend, als seine Frau zu ihm ins Zimmer trat, sah sie an und verschied.
Du bebest, Leser! wohl bebe! das ist der Mensch. Vernunft und Unsinn fuͤhren ihn so oft zu demselben Punkte. Aber verweile noch bei dem blutenden Leichnam. Es liegt kein Werther vor dir, der einem Mannsleben ein Knabenende machte, weil er sich in eines andern Weib vergaft hatte. Ein Mann hat sich in den Staub gestreckt, der Edelmuth und Nachdenken besaß, lange seinen Entschluß uͤberlebte, und mit festem Schritte aus der Welt gieng.
Dieser Tod ist werth des Anschauens des Weisen, werth der Betrachtung des Seelenarztes; was
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783/44>, abgerufen am 16.07.2024. |