Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Fortgesetzte Beobachtungen über einen Taub- und Stummgebohrnen

Da ich wegen meiner fortdaurenden Kränklichkeit meine Versuche mit diesem Taubstummen, nicht, wie ich wünschte, habe fortsetzen können, so bin ich wenigstens aufmerksam auf seine Handlungen und auf die pantomimische Aeußerung seiner Gedanken gewesen, um daraus auf die Denkart eines solchen Menschen weiter zu schließen.

Jch habe schon von ihm angeführt, wie außerordentlich wahr und richtig seine Erinnerung des Vergangnen, wie stark seine Einbildungskraft, und wie gut seine Beurtheilungskraft ist: nachher aber habe ich auch zu meiner größten Verwunderung bemerkt, daß er fast alle Religionsbegriffe von Gott und Christo, und selbst religiöse und andächtige Empfindungen dabei habe.

So lange ich ihn kenne, hat er beständig einen großen Haß gegen die Juden bezeigt, den ich mir anfänglich nicht erklären konnte, bis er einmal gegen einen, der mich besuchte, erstaunlich aufgebracht war, und durch Ausbreitung der Arme, wie bei einem Cruzifix, und sehr genaue Bezeichnung der fünf Wunden Jesu, sehr deutlich ausdrückte, daß Christus von den Juden gekreuziget sey. Er bildete darauf mit den Fingern eine Figur von zwei Hör-


II. Fortgesetzte Beobachtungen uͤber einen Taub- und Stummgebohrnen

Da ich wegen meiner fortdaurenden Kraͤnklichkeit meine Versuche mit diesem Taubstummen, nicht, wie ich wuͤnschte, habe fortsetzen koͤnnen, so bin ich wenigstens aufmerksam auf seine Handlungen und auf die pantomimische Aeußerung seiner Gedanken gewesen, um daraus auf die Denkart eines solchen Menschen weiter zu schließen.

Jch habe schon von ihm angefuͤhrt, wie außerordentlich wahr und richtig seine Erinnerung des Vergangnen, wie stark seine Einbildungskraft, und wie gut seine Beurtheilungskraft ist: nachher aber habe ich auch zu meiner groͤßten Verwunderung bemerkt, daß er fast alle Religionsbegriffe von Gott und Christo, und selbst religioͤse und andaͤchtige Empfindungen dabei habe.

So lange ich ihn kenne, hat er bestaͤndig einen großen Haß gegen die Juden bezeigt, den ich mir anfaͤnglich nicht erklaͤren konnte, bis er einmal gegen einen, der mich besuchte, erstaunlich aufgebracht war, und durch Ausbreitung der Arme, wie bei einem Cruzifix, und sehr genaue Bezeichnung der fuͤnf Wunden Jesu, sehr deutlich ausdruͤckte, daß Christus von den Juden gekreuziget sey. Er bildete darauf mit den Fingern eine Figur von zwei Hoͤr-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div>
          <pb facs="#f0080" n="76"/><lb/><lb/>
        </div>
        <div>
          <head><hi rendition="#aq">II</hi>. Fortgesetzte Beobachtungen u&#x0364;ber einen Taub- und Stummgebohrnen </head><lb/>
          <note type="editorial">
            <bibl>
              <persName ref="#ref1"><note type="editorial"/>Moritz, Karl Philipp</persName>
            </bibl>
          </note>
          <p>Da ich wegen meiner fortdaurenden Kra&#x0364;nklichkeit meine Versuche                         mit diesem Taubstummen, nicht, wie ich wu&#x0364;nschte, habe fortsetzen ko&#x0364;nnen, so                         bin ich wenigstens aufmerksam auf seine Handlungen und auf die pantomimische                         Aeußerung seiner Gedanken gewesen, um daraus auf die Denkart eines solchen                         Menschen weiter zu schließen. </p>
          <p>Jch habe schon von ihm angefu&#x0364;hrt, wie außerordentlich wahr und                         richtig seine Erinnerung des Vergangnen, wie stark seine Einbildungskraft,                         und wie gut seine Beurtheilungskraft ist: nachher aber habe ich auch zu                         meiner gro&#x0364;ßten Verwunderung bemerkt, daß er fast alle Religionsbegriffe von                         Gott und Christo, und selbst religio&#x0364;se und anda&#x0364;chtige Empfindungen dabei                         habe. </p>
          <p>So lange ich ihn kenne, hat er besta&#x0364;ndig einen großen Haß gegen                         die Juden bezeigt, den ich mir anfa&#x0364;nglich nicht erkla&#x0364;ren konnte, bis er                         einmal gegen einen, der mich besuchte, erstaunlich aufgebracht war, und                         durch Ausbreitung der Arme, wie bei einem Cruzifix, und sehr genaue                         Bezeichnung der fu&#x0364;nf Wunden Jesu, sehr deutlich ausdru&#x0364;ckte, daß Christus von                         den Juden gekreuziget sey. Er bildete darauf mit den Fingern eine Figur von                         zwei Ho&#x0364;r-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[76/0080] II. Fortgesetzte Beobachtungen uͤber einen Taub- und Stummgebohrnen Da ich wegen meiner fortdaurenden Kraͤnklichkeit meine Versuche mit diesem Taubstummen, nicht, wie ich wuͤnschte, habe fortsetzen koͤnnen, so bin ich wenigstens aufmerksam auf seine Handlungen und auf die pantomimische Aeußerung seiner Gedanken gewesen, um daraus auf die Denkart eines solchen Menschen weiter zu schließen. Jch habe schon von ihm angefuͤhrt, wie außerordentlich wahr und richtig seine Erinnerung des Vergangnen, wie stark seine Einbildungskraft, und wie gut seine Beurtheilungskraft ist: nachher aber habe ich auch zu meiner groͤßten Verwunderung bemerkt, daß er fast alle Religionsbegriffe von Gott und Christo, und selbst religioͤse und andaͤchtige Empfindungen dabei habe. So lange ich ihn kenne, hat er bestaͤndig einen großen Haß gegen die Juden bezeigt, den ich mir anfaͤnglich nicht erklaͤren konnte, bis er einmal gegen einen, der mich besuchte, erstaunlich aufgebracht war, und durch Ausbreitung der Arme, wie bei einem Cruzifix, und sehr genaue Bezeichnung der fuͤnf Wunden Jesu, sehr deutlich ausdruͤckte, daß Christus von den Juden gekreuziget sey. Er bildete darauf mit den Fingern eine Figur von zwei Hoͤr-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783/80
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783/80>, abgerufen am 21.11.2024.