Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 1. Berlin, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur
Seelenzeichenkunde.



Weil es einigen Materialien, die ich zu dieser Ru-
brik gesammlet habe, noch an Vollständigkeit fehlt,
so will ich sie bis auf ein künftiges Stück versparen,
und nur jetzt im Ganzen einiges niederschreiben, was
ich aus eigner Erfahrung hierüber sagen kann, und
wovon ich schon in meinen Aussichten zu einer Ex-
perimentalseelenlehre
Verschiedenes geäußert habe.

Der Schulmann und der Erzieher haben vor
vielen andern Gelegenheit, Beobachtungen über
den Menschen anzustellen, weil bei Kindern die
Verstellungskunst größtentheils noch nicht so weit,
wie bei Erwachsenen gehet. Der Erzieher hat den
Vorzug, daß er seine Subjekte beständig beobachten
kann. Aber der Schulmann hat wiederum den
Vortheil der Mannichfaltigkeit der Subjekte.

Als ich vor vier Jahren meine Lehrstelle am
grauen Kloster antrat, machte ich mir schon einen
Plan, wie ich Beobachtungen bei meinen Schü-
lern anstellen wollte. Man sammlet tägliche Be-
merkungen über das Wetter, dacht' ich, und den
Menschen sollte man dessen nicht werth achten? Jch
entschloß mich also, ein eignes Journal über verschiedne
der merkwürdigsten Köpfe zu halten, welches ich auch,
freilich mit vielen Unterbrechungen, die durch meine
Lage verursacht wurden, fortgesetzt habe.


Mein
Zur
Seelenzeichenkunde.



Weil es einigen Materialien, die ich zu dieser Ru-
brik gesammlet habe, noch an Vollstaͤndigkeit fehlt,
so will ich sie bis auf ein kuͤnftiges Stuͤck versparen,
und nur jetzt im Ganzen einiges niederschreiben, was
ich aus eigner Erfahrung hieruͤber sagen kann, und
wovon ich schon in meinen Aussichten zu einer Ex-
perimentalseelenlehre
Verschiedenes geaͤußert habe.

Der Schulmann und der Erzieher haben vor
vielen andern Gelegenheit, Beobachtungen uͤber
den Menschen anzustellen, weil bei Kindern die
Verstellungskunst groͤßtentheils noch nicht so weit,
wie bei Erwachsenen gehet. Der Erzieher hat den
Vorzug, daß er seine Subjekte bestaͤndig beobachten
kann. Aber der Schulmann hat wiederum den
Vortheil der Mannichfaltigkeit der Subjekte.

Als ich vor vier Jahren meine Lehrstelle am
grauen Kloster antrat, machte ich mir schon einen
Plan, wie ich Beobachtungen bei meinen Schuͤ-
lern anstellen wollte. Man sammlet taͤgliche Be-
merkungen uͤber das Wetter, dacht' ich, und den
Menschen sollte man dessen nicht werth achten? Jch
entschloß mich also, ein eignes Journal uͤber verschiedne
der merkwuͤrdigsten Koͤpfe zu halten, welches ich auch,
freilich mit vielen Unterbrechungen, die durch meine
Lage verursacht wurden, fortgesetzt habe.


Mein
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0111" n="107"/>
      <div n="1">
        <head rendition="#g"> <hi rendition="#c">Zur<lb/><hi rendition="#b">Seelenzeichenkunde.</hi></hi> </head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p><hi rendition="#in">W</hi>eil es einigen Materialien, die ich zu dieser Ru-<lb/>
brik
                gesammlet habe, noch an Vollsta&#x0364;ndigkeit fehlt,<lb/>
so will ich sie bis auf
                ein ku&#x0364;nftiges Stu&#x0364;ck versparen,<lb/>
und nur jetzt im Ganzen einiges
                niederschreiben, was<lb/>
ich aus eigner <hi rendition="#b">Erfahrung</hi> hieru&#x0364;ber sagen kann, und<lb/>
wovon ich schon in meinen <hi rendition="#b">Aussichten zu einer Ex-<lb/>
perimentalseelenlehre</hi> Verschiedenes
                gea&#x0364;ußert habe.</p><lb/>
        <p>Der Schulmann und der Erzieher haben vor<lb/>
vielen andern Gelegenheit, Beobachtungen
             u&#x0364;ber<lb/>
den Menschen anzustellen, weil bei Kindern die<lb/>
Verstellungskunst
             gro&#x0364;ßtentheils noch nicht so weit,<lb/>
wie bei Erwachsenen gehet. Der Erzieher
             hat den<lb/>
Vorzug, daß er seine Subjekte besta&#x0364;ndig beobachten<lb/>
kann. Aber
             der Schulmann hat wiederum den<lb/>
Vortheil der Mannichfaltigkeit der Subjekte.</p><lb/>
        <p>Als ich vor vier Jahren meine Lehrstelle am<lb/>
grauen Kloster antrat, machte ich mir
                schon einen<lb/>
Plan, wie ich Beobachtungen bei meinen Schu&#x0364;-<lb/>
lern
                anstellen wollte. Man sammlet ta&#x0364;gliche Be-<lb/>
merkungen u&#x0364;ber das
                Wetter, dacht' ich, und den<lb/>
Menschen sollte man dessen nicht werth achten?
                Jch<lb/>
entschloß mich also, ein eignes Journal u&#x0364;ber verschiedne<lb/>
der
                merkwu&#x0364;rdigsten Ko&#x0364;pfe zu halten, welches ich auch,<lb/>
freilich mit
                vielen Unterbrechungen, die durch meine<lb/>
Lage verursacht wurden, fortgesetzt
                habe.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">Mein</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[107/0111] Zur Seelenzeichenkunde. Weil es einigen Materialien, die ich zu dieser Ru- brik gesammlet habe, noch an Vollstaͤndigkeit fehlt, so will ich sie bis auf ein kuͤnftiges Stuͤck versparen, und nur jetzt im Ganzen einiges niederschreiben, was ich aus eigner Erfahrung hieruͤber sagen kann, und wovon ich schon in meinen Aussichten zu einer Ex- perimentalseelenlehre Verschiedenes geaͤußert habe. Der Schulmann und der Erzieher haben vor vielen andern Gelegenheit, Beobachtungen uͤber den Menschen anzustellen, weil bei Kindern die Verstellungskunst groͤßtentheils noch nicht so weit, wie bei Erwachsenen gehet. Der Erzieher hat den Vorzug, daß er seine Subjekte bestaͤndig beobachten kann. Aber der Schulmann hat wiederum den Vortheil der Mannichfaltigkeit der Subjekte. Als ich vor vier Jahren meine Lehrstelle am grauen Kloster antrat, machte ich mir schon einen Plan, wie ich Beobachtungen bei meinen Schuͤ- lern anstellen wollte. Man sammlet taͤgliche Be- merkungen uͤber das Wetter, dacht' ich, und den Menschen sollte man dessen nicht werth achten? Jch entschloß mich also, ein eignes Journal uͤber verschiedne der merkwuͤrdigsten Koͤpfe zu halten, welches ich auch, freilich mit vielen Unterbrechungen, die durch meine Lage verursacht wurden, fortgesetzt habe. Mein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Gloning, Marc Kuse, Justus-Liebig-Universität: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2013-06-06T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jurgita Baranauskaite, Justus-Liebig-Universität: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2013-06-06T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-06-06T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01_1783/111
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 1. Berlin, 1783, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01_1783/111>, abgerufen am 23.11.2024.