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Moritz, Karl Philipp: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 1. Berlin, 1783.

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und unzurückhaltende Antworten zu bekommen. Dieß
Zutrauen aber erwirbt oft ein Blick, eine Miene, ein
Händedruck, wodurch das junge Herz eröfnet wird,
daß der Mund reine ungeheuchelte Wahrheit spricht.

Jch gebe sehr aufmerksam auf sein Betragen
Acht, wenn sich die Gelegenheit ereignet, ihm we-
gen Muthwillen oder Nachlässigkeit ernsthafte Ver-
weise zu geben, oder ihm wegen seines Fleißes oder
seiner Ordnung meinen Beifall zu bezeigen. Wie
mancher besteht nicht in dieser letztren Probe, der
die erstre glücklich überstanden hatte!

Wenn ich diese Bemerkungen ohngefähr eine
Woche lang in mein Buch eingetragen habe, und sie
dann zusammennehme, so kömmt oft gerade das Facit
heraus, was ich nach wahrscheinlichen Gründen vor-
her vermuthet hatte. Jeder befundne Jrrthum aber
wird mir eine heilsame Lehre auf die Zukunft.

Auf die Weise entwerfe ich mir zuweilen Ta-
bellen von einigen der abstechendsten Charaktere,
wo die Nahmen oben in einiger Entfernung neben-
einander stehen, und wo ich unter einem jeden die
täglichen Bemerkungen eintrage. Es macht mir
alsdann viel Vergnügen, diese Charaktere da ne-
beneinander figuriren zu sehen, und ihre Nüancen
oft bis in die kleinsten körperlichen Bewegungen,
und bis zum Mienenspiele zu verfolgen.

Jch zweifle nicht, daß viele Schulmänner
und Erzieher, ähnliche und beßre Beobachtungen,
und vielleicht auch nach einer bessern Methode, über

ein-
Magazin 1stes St. H

und unzuruͤckhaltende Antworten zu bekommen. Dieß
Zutrauen aber erwirbt oft ein Blick, eine Miene, ein
Haͤndedruck, wodurch das junge Herz eroͤfnet wird,
daß der Mund reine ungeheuchelte Wahrheit spricht.

Jch gebe sehr aufmerksam auf sein Betragen
Acht, wenn sich die Gelegenheit ereignet, ihm we-
gen Muthwillen oder Nachlaͤssigkeit ernsthafte Ver-
weise zu geben, oder ihm wegen seines Fleißes oder
seiner Ordnung meinen Beifall zu bezeigen. Wie
mancher besteht nicht in dieser letztren Probe, der
die erstre gluͤcklich uͤberstanden hatte!

Wenn ich diese Bemerkungen ohngefaͤhr eine
Woche lang in mein Buch eingetragen habe, und sie
dann zusammennehme, so koͤmmt oft gerade das Facit
heraus, was ich nach wahrscheinlichen Gruͤnden vor-
her vermuthet hatte. Jeder befundne Jrrthum aber
wird mir eine heilsame Lehre auf die Zukunft.

Auf die Weise entwerfe ich mir zuweilen Ta-
bellen von einigen der abstechendsten Charaktere,
wo die Nahmen oben in einiger Entfernung neben-
einander stehen, und wo ich unter einem jeden die
taͤglichen Bemerkungen eintrage. Es macht mir
alsdann viel Vergnuͤgen, diese Charaktere da ne-
beneinander figuriren zu sehen, und ihre Nuͤancen
oft bis in die kleinsten koͤrperlichen Bewegungen,
und bis zum Mienenspiele zu verfolgen.

Jch zweifle nicht, daß viele Schulmaͤnner
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[109/0113] und unzuruͤckhaltende Antworten zu bekommen. Dieß Zutrauen aber erwirbt oft ein Blick, eine Miene, ein Haͤndedruck, wodurch das junge Herz eroͤfnet wird, daß der Mund reine ungeheuchelte Wahrheit spricht. Jch gebe sehr aufmerksam auf sein Betragen Acht, wenn sich die Gelegenheit ereignet, ihm we- gen Muthwillen oder Nachlaͤssigkeit ernsthafte Ver- weise zu geben, oder ihm wegen seines Fleißes oder seiner Ordnung meinen Beifall zu bezeigen. Wie mancher besteht nicht in dieser letztren Probe, der die erstre gluͤcklich uͤberstanden hatte! Wenn ich diese Bemerkungen ohngefaͤhr eine Woche lang in mein Buch eingetragen habe, und sie dann zusammennehme, so koͤmmt oft gerade das Facit heraus, was ich nach wahrscheinlichen Gruͤnden vor- her vermuthet hatte. Jeder befundne Jrrthum aber wird mir eine heilsame Lehre auf die Zukunft. Auf die Weise entwerfe ich mir zuweilen Ta- bellen von einigen der abstechendsten Charaktere, wo die Nahmen oben in einiger Entfernung neben- einander stehen, und wo ich unter einem jeden die taͤglichen Bemerkungen eintrage. Es macht mir alsdann viel Vergnuͤgen, diese Charaktere da ne- beneinander figuriren zu sehen, und ihre Nuͤancen oft bis in die kleinsten koͤrperlichen Bewegungen, und bis zum Mienenspiele zu verfolgen. Jch zweifle nicht, daß viele Schulmaͤnner und Erzieher, aͤhnliche und beßre Beobachtungen, und vielleicht auch nach einer bessern Methode, uͤber ein- Magazin 1stes St. H

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Thomas Gloning, Marc Kuse, Justus-Liebig-Universität: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2013-06-06T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jurgita Baranauskaite, Justus-Liebig-Universität: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2013-06-06T11:00:00Z)
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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 1. Berlin, 1783, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01_1783/113>, abgerufen am 23.11.2024.