Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784.

Bild:
<< vorherige Seite


vertauscht sind -- ich fürchte, auch von dieser Seite nun weniger) hernehmen zu können glaube.

Viele Mühe kostete es, ihre unrichtige Erklärung und Anwendung dieses Liedes zu berichtigen, auf dessen Autorität sie ihren Beruf sterben zu müssen gründete. Endlich gelang mir's, nachdem ich mit ihr über die Bestimmung des Menschen, über die Absicht ihres eignen Lebens und der Verbindung, worin sie sei, etwas umständlich gesprochen hatte, ihre jetzige Lieblingsmeinung zu schwächen. Beredete sie auch, nach vielem Widerstand, einen geschickten Arzt, den ich vorschlug, hohlen zu lassen, nach desselben genauer Befolgung sie gewiß von der Wahrheit meiner Rede und Vorstellung, daß ihr Ziel noch nicht da sei, überzeugt und andrer Meinung werden würde. Jch erfüllte hierauf die Absicht, weswegen ich eigentlich verlangt war, (doch nicht wie die Patientin vorher wünschte, zum Tode eingesegnet zu werden,) und verließ sie unter Anwünschung, daß sie Gott an Leib und Seele bald heilen wolle.

Einige Tage nachher wurde ich wieder verlangt -- "denn die Kranke wolle jetzt sterben" -- Wie ich hinkam, war der Paroxismus, den ich noch nicht kannte, vorüber; die Patientin ganz blaß, entkräftet, und voll der Sterbensgedanken. Jch empfahl ihr, fleißig nach der Vorschrift des Arztes zu mediciniren; gab ihr selbst einigemal ein, laß ihr Gesänge vor, die sich für sie paßten, schlug ihr auch ganze Stellen aus dem N. T. auf, die sie selbst oft lesen mögte.


vertauscht sind ― ich fuͤrchte, auch von dieser Seite nun weniger) hernehmen zu koͤnnen glaube.

Viele Muͤhe kostete es, ihre unrichtige Erklaͤrung und Anwendung dieses Liedes zu berichtigen, auf dessen Autoritaͤt sie ihren Beruf sterben zu muͤssen gruͤndete. Endlich gelang mir's, nachdem ich mit ihr uͤber die Bestimmung des Menschen, uͤber die Absicht ihres eignen Lebens und der Verbindung, worin sie sei, etwas umstaͤndlich gesprochen hatte, ihre jetzige Lieblingsmeinung zu schwaͤchen. Beredete sie auch, nach vielem Widerstand, einen geschickten Arzt, den ich vorschlug, hohlen zu lassen, nach desselben genauer Befolgung sie gewiß von der Wahrheit meiner Rede und Vorstellung, daß ihr Ziel noch nicht da sei, uͤberzeugt und andrer Meinung werden wuͤrde. Jch erfuͤllte hierauf die Absicht, weswegen ich eigentlich verlangt war, (doch nicht wie die Patientin vorher wuͤnschte, zum Tode eingesegnet zu werden,) und verließ sie unter Anwuͤnschung, daß sie Gott an Leib und Seele bald heilen wolle.

Einige Tage nachher wurde ich wieder verlangt ― »denn die Kranke wolle jetzt sterben« ― Wie ich hinkam, war der Paroxismus, den ich noch nicht kannte, voruͤber; die Patientin ganz blaß, entkraͤftet, und voll der Sterbensgedanken. Jch empfahl ihr, fleißig nach der Vorschrift des Arztes zu mediciniren; gab ihr selbst einigemal ein, laß ihr Gesaͤnge vor, die sich fuͤr sie paßten, schlug ihr auch ganze Stellen aus dem N. T. auf, die sie selbst oft lesen moͤgte.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <p><pb facs="#f0068" n="66"/><lb/>
vertauscht sind &#x2015; ich fu&#x0364;rchte, auch von dieser Seite  nun weniger) hernehmen zu ko&#x0364;nnen glaube. </p>
            <p>Viele Mu&#x0364;he kostete es, ihre unrichtige Erkla&#x0364;rung und Anwendung dieses Liedes  zu berichtigen, auf dessen Autorita&#x0364;t sie ihren Beruf sterben zu mu&#x0364;ssen  gru&#x0364;ndete. Endlich gelang mir's, nachdem ich mit ihr u&#x0364;ber die Bestimmung des  Menschen, u&#x0364;ber die Absicht ihres eignen Lebens und der Verbindung, worin sie  sei, etwas umsta&#x0364;ndlich gesprochen hatte, ihre jetzige Lieblingsmeinung zu  schwa&#x0364;chen. Beredete sie auch, nach vielem Widerstand, einen geschickten  Arzt, den ich vorschlug, hohlen zu lassen, nach desselben genauer Befolgung  sie gewiß von der Wahrheit meiner Rede und Vorstellung, daß ihr Ziel noch  nicht da sei, u&#x0364;berzeugt und andrer Meinung werden wu&#x0364;rde. Jch erfu&#x0364;llte  hierauf die Absicht, weswegen ich eigentlich verlangt war, (doch nicht wie  die Patientin vorher wu&#x0364;nschte, zum Tode eingesegnet zu werden,) und verließ  sie unter Anwu&#x0364;nschung, daß sie Gott an Leib und Seele bald heilen wolle. </p>
            <p>Einige Tage nachher wurde ich wieder verlangt &#x2015; »denn die Kranke wolle jetzt  sterben« &#x2015; Wie ich hinkam, war der Paroxismus, den ich noch nicht kannte,  voru&#x0364;ber; die Patientin ganz blaß, entkra&#x0364;ftet, und voll der Sterbensgedanken.  Jch empfahl ihr, fleißig nach der <choice><corr>Vorschrift</corr><sic>Vorschift</sic></choice> des Arztes zu mediciniren; gab ihr  selbst einigemal ein, laß ihr Gesa&#x0364;nge vor, die sich fu&#x0364;r sie paßten, schlug  ihr auch ganze Stellen aus dem N. T. auf, die sie selbst oft lesen mo&#x0364;gte.<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[66/0068] vertauscht sind ― ich fuͤrchte, auch von dieser Seite nun weniger) hernehmen zu koͤnnen glaube. Viele Muͤhe kostete es, ihre unrichtige Erklaͤrung und Anwendung dieses Liedes zu berichtigen, auf dessen Autoritaͤt sie ihren Beruf sterben zu muͤssen gruͤndete. Endlich gelang mir's, nachdem ich mit ihr uͤber die Bestimmung des Menschen, uͤber die Absicht ihres eignen Lebens und der Verbindung, worin sie sei, etwas umstaͤndlich gesprochen hatte, ihre jetzige Lieblingsmeinung zu schwaͤchen. Beredete sie auch, nach vielem Widerstand, einen geschickten Arzt, den ich vorschlug, hohlen zu lassen, nach desselben genauer Befolgung sie gewiß von der Wahrheit meiner Rede und Vorstellung, daß ihr Ziel noch nicht da sei, uͤberzeugt und andrer Meinung werden wuͤrde. Jch erfuͤllte hierauf die Absicht, weswegen ich eigentlich verlangt war, (doch nicht wie die Patientin vorher wuͤnschte, zum Tode eingesegnet zu werden,) und verließ sie unter Anwuͤnschung, daß sie Gott an Leib und Seele bald heilen wolle. Einige Tage nachher wurde ich wieder verlangt ― »denn die Kranke wolle jetzt sterben« ― Wie ich hinkam, war der Paroxismus, den ich noch nicht kannte, voruͤber; die Patientin ganz blaß, entkraͤftet, und voll der Sterbensgedanken. Jch empfahl ihr, fleißig nach der Vorschrift des Arztes zu mediciniren; gab ihr selbst einigemal ein, laß ihr Gesaͤnge vor, die sich fuͤr sie paßten, schlug ihr auch ganze Stellen aus dem N. T. auf, die sie selbst oft lesen moͤgte.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0201_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0201_1784/68
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0201_1784/68>, abgerufen am 21.11.2024.