Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 1. Berlin, 1786.Daß man schwermüthigen Leuten nicht widersprechen, sondern nur ihre Aufmerksamkeit, gleichsam als von ohngefähr, auf etwas ihnen neues zu richten suchen müsse. Möchte doch die Anwendung dieser Regel bei schwermüthigen Personen häufiger beobachtet werden! -- dieß ist doch nun eine wirklich erprobte Erfahrung, und die liefert noch ein Beispiel von der Art, das nicht minder merkwürdig ist: es gelang ihr nehmlich bei einem jungen Frauenzimmer, die täglich des Nachmittags Anfälle von Wahnwitz hatte, diese Anfälle, so oft sie den Versuch machte, durch Madam R..Erweckung ganz neuer Jdeen, aufzuhalten, da man ihr sonst nur immer Sprüche aus der Bibel und Liederverse vorgesagt hatte, die sie selbst schon auswendig wußte, und wodurch sie gar nicht aus dem Kreise ihres gewöhnlichen Denkens herausgerissen wurde. Die suchte ihr Begriffe vom Bauen unter dem Wasser, vom Weltgebäude, von Geographie, kurz von lauter Madam R..ihr bisher ganz unbekannten Dingen beizubringen, und dieß fesselte die Aufmerksamkeit der Kranken so sehr, daß sie jedesmal glücklich über die Stunden des Wahnwitzes hinwegkam. Noch ein merkwürdiges Beispiel, wie nahe die körperliche und Seelenheilkunde aneinander gränzen, ist auch die psychologische Beschreibung seiner eignen Krankheit vom Herrn D. Daß man schwermuͤthigen Leuten nicht widersprechen, sondern nur ihre Aufmerksamkeit, gleichsam als von ohngefaͤhr, auf etwas ihnen neues zu richten suchen muͤsse. Moͤchte doch die Anwendung dieser Regel bei schwermuͤthigen Personen haͤufiger beobachtet werden! — dieß ist doch nun eine wirklich erprobte Erfahrung, und die liefert noch ein Beispiel von der Art, das nicht minder merkwuͤrdig ist: es gelang ihr nehmlich bei einem jungen Frauenzimmer, die taͤglich des Nachmittags Anfaͤlle von Wahnwitz hatte, diese Anfaͤlle, so oft sie den Versuch machte, durch Madam R..Erweckung ganz neuer Jdeen, aufzuhalten, da man ihr sonst nur immer Spruͤche aus der Bibel und Liederverse vorgesagt hatte, die sie selbst schon auswendig wußte, und wodurch sie gar nicht aus dem Kreise ihres gewoͤhnlichen Denkens herausgerissen wurde. Die suchte ihr Begriffe vom Bauen unter dem Wasser, vom Weltgebaͤude, von Geographie, kurz von lauter Madam R..ihr bisher ganz unbekannten Dingen beizubringen, und dieß fesselte die Aufmerksamkeit der Kranken so sehr, daß sie jedesmal gluͤcklich uͤber die Stunden des Wahnwitzes hinwegkam. Noch ein merkwuͤrdiges Beispiel, wie nahe die koͤrperliche und Seelenheilkunde aneinander graͤnzen, ist auch die psychologische Beschreibung seiner eignen Krankheit vom Herrn D. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0043" n="41"/><lb/> <p> <hi rendition="#b">Daß man schwermuͤthigen Leuten nicht widersprechen, sondern nur ihre Aufmerksamkeit, gleichsam als von ohngefaͤhr, auf etwas ihnen neues zu richten suchen muͤsse. </hi> </p> <p>Moͤchte doch die Anwendung dieser Regel bei schwermuͤthigen Personen haͤufiger beobachtet werden! — dieß ist doch nun eine wirklich erprobte Erfahrung, und die <persName ref="#ref0064"><note type="editorial">Reiske, Ernestine Christiane</note>Madam R..</persName> liefert noch ein Beispiel von der Art, das nicht minder merkwuͤrdig ist: es gelang ihr nehmlich bei einem jungen Frauenzimmer, die taͤglich des Nachmittags Anfaͤlle von Wahnwitz hatte, diese Anfaͤlle, so oft sie den Versuch machte, durch <hi rendition="#b">Erweckung ganz neuer Jdeen,</hi> aufzuhalten, da man ihr sonst nur immer Spruͤche aus der Bibel und Liederverse vorgesagt hatte, die sie selbst schon auswendig wußte, und wodurch sie gar nicht aus dem Kreise ihres gewoͤhnlichen Denkens herausgerissen wurde. </p> <p>Die <persName ref="#ref0064"><note type="editorial">Reiske, Ernestine Christiane</note>Madam R..</persName> suchte ihr Begriffe vom Bauen unter dem Wasser, vom Weltgebaͤude, von Geographie, kurz von lauter <hi rendition="#b">ihr bisher ganz unbekannten <choice><corr>Dingen</corr><sic>Dinge</sic></choice></hi> beizubringen, und dieß fesselte die Aufmerksamkeit der Kranken so sehr, daß sie jedesmal gluͤcklich uͤber die Stunden des Wahnwitzes hinwegkam. </p> <p>Noch ein merkwuͤrdiges Beispiel, wie <hi rendition="#b">nahe die koͤrperliche und Seelenheilkunde aneinander graͤnzen,</hi> ist auch die psychologische Beschreibung seiner eignen Krankheit vom Herrn <hi rendition="#b">D.</hi><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [41/0043]
Daß man schwermuͤthigen Leuten nicht widersprechen, sondern nur ihre Aufmerksamkeit, gleichsam als von ohngefaͤhr, auf etwas ihnen neues zu richten suchen muͤsse.
Moͤchte doch die Anwendung dieser Regel bei schwermuͤthigen Personen haͤufiger beobachtet werden! — dieß ist doch nun eine wirklich erprobte Erfahrung, und die Madam R.. liefert noch ein Beispiel von der Art, das nicht minder merkwuͤrdig ist: es gelang ihr nehmlich bei einem jungen Frauenzimmer, die taͤglich des Nachmittags Anfaͤlle von Wahnwitz hatte, diese Anfaͤlle, so oft sie den Versuch machte, durch Erweckung ganz neuer Jdeen, aufzuhalten, da man ihr sonst nur immer Spruͤche aus der Bibel und Liederverse vorgesagt hatte, die sie selbst schon auswendig wußte, und wodurch sie gar nicht aus dem Kreise ihres gewoͤhnlichen Denkens herausgerissen wurde.
Die Madam R.. suchte ihr Begriffe vom Bauen unter dem Wasser, vom Weltgebaͤude, von Geographie, kurz von lauter ihr bisher ganz unbekannten Dingen beizubringen, und dieß fesselte die Aufmerksamkeit der Kranken so sehr, daß sie jedesmal gluͤcklich uͤber die Stunden des Wahnwitzes hinwegkam.
Noch ein merkwuͤrdiges Beispiel, wie nahe die koͤrperliche und Seelenheilkunde aneinander graͤnzen, ist auch die psychologische Beschreibung seiner eignen Krankheit vom Herrn D.
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