Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786.Zur Seelennaturkunde. 1. Einige an einem Taubstummen gemachte Beobachtungen. Dieser Taubstummgebohrne, über welchen ich diese Bemerkungen zu machen Gelegenheit gehabt habe, heist Herbst, und lebt noch jetzt in seinem Geburtsorte einer kleinen in der sogenannten güldenen Aue gelegenen Stadt in Thüringen. Seine Eltern, durch drückende Armuth in die traurige Unmöglichkeit versetzt, auf die Erziehung ihres unglücklichen Kindes etwas zu verwenden, musten sich damit begnügen, diesen Stummen in die öffentliche Freischule zu schicken -- vielleicht bloß in der Absicht, um der Sorge der Aufsicht überhoben zu seyn, und ihn ans Stillesitzen zu gewöhnen. Die daselbst angestellten Schullehrer, deren Stunden er also besuchte, hatten theils wegen der so schon überhäuften Menge der Schulkinder nicht Zeit, theils auch vielleicht eben nicht viel Lust, sich mit diesem armen Menschen abzugeben, weil sie sich selbst keinen glücklichen Erfolg ihrer Arbeiten ver- Zur Seelennaturkunde. 1. Einige an einem Taubstummen gemachte Beobachtungen. Dieser Taubstummgebohrne, uͤber welchen ich diese Bemerkungen zu machen Gelegenheit gehabt habe, heist Herbst, und lebt noch jetzt in seinem Geburtsorte einer kleinen in der sogenannten guͤldenen Aue gelegenen Stadt in Thuͤringen. Seine Eltern, durch druͤckende Armuth in die traurige Unmoͤglichkeit versetzt, auf die Erziehung ihres ungluͤcklichen Kindes etwas zu verwenden, musten sich damit begnuͤgen, diesen Stummen in die oͤffentliche Freischule zu schicken — vielleicht bloß in der Absicht, um der Sorge der Aufsicht uͤberhoben zu seyn, und ihn ans Stillesitzen zu gewoͤhnen. Die daselbst angestellten Schullehrer, deren Stunden er also besuchte, hatten theils wegen der so schon uͤberhaͤuften Menge der Schulkinder nicht Zeit, theils auch vielleicht eben nicht viel Lust, sich mit diesem armen Menschen abzugeben, weil sie sich selbst keinen gluͤcklichen Erfolg ihrer Arbeiten ver- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0042" n="42"/><lb/><lb/> </div> </div> <div n="2"> <head>Zur Seelennaturkunde.</head><lb/> <div n="3"> <head>1. Einige an einem Taubstummen gemachte Beobachtungen.</head><lb/> <note type="editorial"> <bibl> <persName ref="#ref4"><note type="editorial"/>Wallroth, Friedrich Heinrich Anton</persName> </bibl> </note> <p>Dieser Taubstummgebohrne, uͤber welchen ich diese Bemerkungen zu machen Gelegenheit gehabt habe, heist <hi rendition="#b">Herbst,</hi> und lebt noch jetzt in seinem Geburtsorte einer kleinen in der sogenannten guͤldenen Aue gelegenen Stadt in Thuͤringen. Seine Eltern, durch druͤckende Armuth in die traurige Unmoͤglichkeit versetzt, auf die Erziehung ihres ungluͤcklichen Kindes etwas zu verwenden, musten sich damit begnuͤgen, diesen Stummen in die oͤffentliche Freischule zu schicken — vielleicht bloß in der Absicht, um der Sorge der Aufsicht uͤberhoben zu seyn, und ihn ans Stillesitzen zu gewoͤhnen. Die daselbst angestellten Schullehrer, deren Stunden er also besuchte, hatten theils wegen der so schon uͤberhaͤuften Menge der Schulkinder nicht Zeit, theils auch vielleicht eben nicht viel Lust, sich mit diesem armen Menschen abzugeben, weil sie sich selbst keinen gluͤcklichen Erfolg ihrer Arbeiten ver-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [42/0042]
Zur Seelennaturkunde.
1. Einige an einem Taubstummen gemachte Beobachtungen.
Dieser Taubstummgebohrne, uͤber welchen ich diese Bemerkungen zu machen Gelegenheit gehabt habe, heist Herbst, und lebt noch jetzt in seinem Geburtsorte einer kleinen in der sogenannten guͤldenen Aue gelegenen Stadt in Thuͤringen. Seine Eltern, durch druͤckende Armuth in die traurige Unmoͤglichkeit versetzt, auf die Erziehung ihres ungluͤcklichen Kindes etwas zu verwenden, musten sich damit begnuͤgen, diesen Stummen in die oͤffentliche Freischule zu schicken — vielleicht bloß in der Absicht, um der Sorge der Aufsicht uͤberhoben zu seyn, und ihn ans Stillesitzen zu gewoͤhnen. Die daselbst angestellten Schullehrer, deren Stunden er also besuchte, hatten theils wegen der so schon uͤberhaͤuften Menge der Schulkinder nicht Zeit, theils auch vielleicht eben nicht viel Lust, sich mit diesem armen Menschen abzugeben, weil sie sich selbst keinen gluͤcklichen Erfolg ihrer Arbeiten ver-
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