Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786.
Folge meines Lebens in einem Schreiben an meinen Bruder: Wie oft, lieber Bruder! dachte ich schon, wie oft denke ich an Dich, wie es Dir gehe, was für ein Verhältniß Dir das Schicksal bestimmt habe? Wie so oft schon erfüllte der innige Wunsch mein Herze? Möchte ich Dich noch einmal sehen, Dich noch einmal in meine Armen einschließen, noch einmal bei Dir die Bruderliebe in ihrer thätigsten Aeußerung, in ihrer wärmsten Gluth fühlen! Aber wann wird der Moment der Befriedigung aller die-
Folge meines Lebens in einem Schreiben an meinen Bruder: Wie oft, lieber Bruder! dachte ich schon, wie oft denke ich an Dich, wie es Dir gehe, was fuͤr ein Verhaͤltniß Dir das Schicksal bestimmt habe? Wie so oft schon erfuͤllte der innige Wunsch mein Herze? Moͤchte ich Dich noch einmal sehen, Dich noch einmal in meine Armen einschließen, noch einmal bei Dir die Bruderliebe in ihrer thaͤtigsten Aeußerung, in ihrer waͤrmsten Gluth fuͤhlen! Aber wann wird der Moment der Befriedigung aller die- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0064" n="64"/><lb/> in dem Menschen dagewesene Modifikation der Seelenorganen dauert fort im ersten geruͤhrten Tone, bis entweder zu viele, obgleich minder lebhafte Vorwuͤrfe sie verwirren, dann verdunkeln, dann vernichten; sich selbst als Tirannen der Seele und ihrer Stimmung eindraͤngen, oder bis ein anderer gleichartiger koͤmmt — und denselben Seelenzustand befestiget; wenn aber die ungleichartigen Eindruͤcke staͤrker sind — so muß nothwendig die Wirkung dieser uͤberlegenen Kraft diese seyn, daß sie die alten Besitzer (sind sie noch nicht zu alt und haben sie sich dem ganzen Menschen noch nicht zu nothwendig und wegen verschiedener Gruͤnde zu interessant gemacht) vertreiben — sich ihrer Stelle versichern — und nun mit dem nehmlichen Rechte und vielleicht wieder mit der nehmlichen Gefahr die Regierung der Seele fuͤhren. </p> <div n="4"> <head>Folge meines Lebens in einem Schreiben an meinen Bruder: </head><lb/> <p>Wie oft, lieber Bruder! dachte ich schon, wie oft denke ich an Dich, wie es Dir gehe, was fuͤr ein Verhaͤltniß Dir das Schicksal bestimmt habe? Wie so oft schon erfuͤllte der innige Wunsch mein Herze? Moͤchte ich Dich noch einmal sehen, Dich noch einmal in meine Armen einschließen, noch einmal bei Dir die Bruderliebe in ihrer thaͤtigsten Aeußerung, in ihrer waͤrmsten Gluth fuͤhlen! Aber wann wird der Moment der Befriedigung aller die-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [64/0064]
in dem Menschen dagewesene Modifikation der Seelenorganen dauert fort im ersten geruͤhrten Tone, bis entweder zu viele, obgleich minder lebhafte Vorwuͤrfe sie verwirren, dann verdunkeln, dann vernichten; sich selbst als Tirannen der Seele und ihrer Stimmung eindraͤngen, oder bis ein anderer gleichartiger koͤmmt — und denselben Seelenzustand befestiget; wenn aber die ungleichartigen Eindruͤcke staͤrker sind — so muß nothwendig die Wirkung dieser uͤberlegenen Kraft diese seyn, daß sie die alten Besitzer (sind sie noch nicht zu alt und haben sie sich dem ganzen Menschen noch nicht zu nothwendig und wegen verschiedener Gruͤnde zu interessant gemacht) vertreiben — sich ihrer Stelle versichern — und nun mit dem nehmlichen Rechte und vielleicht wieder mit der nehmlichen Gefahr die Regierung der Seele fuͤhren.
Folge meines Lebens in einem Schreiben an meinen Bruder:
Wie oft, lieber Bruder! dachte ich schon, wie oft denke ich an Dich, wie es Dir gehe, was fuͤr ein Verhaͤltniß Dir das Schicksal bestimmt habe? Wie so oft schon erfuͤllte der innige Wunsch mein Herze? Moͤchte ich Dich noch einmal sehen, Dich noch einmal in meine Armen einschließen, noch einmal bei Dir die Bruderliebe in ihrer thaͤtigsten Aeußerung, in ihrer waͤrmsten Gluth fuͤhlen! Aber wann wird der Moment der Befriedigung aller die-
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(2015-06-09T11:00:00Z)
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Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat
(2015-06-09T11:00:00Z)
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