Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786.

Bild:
<< vorherige Seite


in dem Menschen dagewesene Modifikation der Seelenorganen dauert fort im ersten gerührten Tone, bis entweder zu viele, obgleich minder lebhafte Vorwürfe sie verwirren, dann verdunkeln, dann vernichten; sich selbst als Tirannen der Seele und ihrer Stimmung eindrängen, oder bis ein anderer gleichartiger kömmt -- und denselben Seelenzustand befestiget; wenn aber die ungleichartigen Eindrücke stärker sind -- so muß nothwendig die Wirkung dieser überlegenen Kraft diese seyn, daß sie die alten Besitzer (sind sie noch nicht zu alt und haben sie sich dem ganzen Menschen noch nicht zu nothwendig und wegen verschiedener Gründe zu interessant gemacht) vertreiben -- sich ihrer Stelle versichern -- und nun mit dem nehmlichen Rechte und vielleicht wieder mit der nehmlichen Gefahr die Regierung der Seele führen.

Folge meines Lebens in einem Schreiben an meinen Bruder:

Wie oft, lieber Bruder! dachte ich schon, wie oft denke ich an Dich, wie es Dir gehe, was für ein Verhältniß Dir das Schicksal bestimmt habe? Wie so oft schon erfüllte der innige Wunsch mein Herze? Möchte ich Dich noch einmal sehen, Dich noch einmal in meine Armen einschließen, noch einmal bei Dir die Bruderliebe in ihrer thätigsten Aeußerung, in ihrer wärmsten Gluth fühlen! Aber wann wird der Moment der Befriedigung aller die-


in dem Menschen dagewesene Modifikation der Seelenorganen dauert fort im ersten geruͤhrten Tone, bis entweder zu viele, obgleich minder lebhafte Vorwuͤrfe sie verwirren, dann verdunkeln, dann vernichten; sich selbst als Tirannen der Seele und ihrer Stimmung eindraͤngen, oder bis ein anderer gleichartiger koͤmmt — und denselben Seelenzustand befestiget; wenn aber die ungleichartigen Eindruͤcke staͤrker sind — so muß nothwendig die Wirkung dieser uͤberlegenen Kraft diese seyn, daß sie die alten Besitzer (sind sie noch nicht zu alt und haben sie sich dem ganzen Menschen noch nicht zu nothwendig und wegen verschiedener Gruͤnde zu interessant gemacht) vertreiben — sich ihrer Stelle versichern — und nun mit dem nehmlichen Rechte und vielleicht wieder mit der nehmlichen Gefahr die Regierung der Seele fuͤhren.

Folge meines Lebens in einem Schreiben an meinen Bruder:

Wie oft, lieber Bruder! dachte ich schon, wie oft denke ich an Dich, wie es Dir gehe, was fuͤr ein Verhaͤltniß Dir das Schicksal bestimmt habe? Wie so oft schon erfuͤllte der innige Wunsch mein Herze? Moͤchte ich Dich noch einmal sehen, Dich noch einmal in meine Armen einschließen, noch einmal bei Dir die Bruderliebe in ihrer thaͤtigsten Aeußerung, in ihrer waͤrmsten Gluth fuͤhlen! Aber wann wird der Moment der Befriedigung aller die-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0064" n="64"/><lb/>
in dem Menschen dagewesene                   Modifikation der Seelenorganen dauert fort im ersten geru&#x0364;hrten Tone, bis entweder                   zu viele, obgleich minder lebhafte Vorwu&#x0364;rfe sie verwirren, dann verdunkeln, dann                   vernichten; sich selbst als Tirannen der Seele und ihrer Stimmung eindra&#x0364;ngen, oder                   bis ein anderer gleichartiger ko&#x0364;mmt &#x2014; und denselben Seelenzustand befestiget; wenn                   aber die ungleichartigen Eindru&#x0364;cke sta&#x0364;rker sind &#x2014; so muß nothwendig die Wirkung                   dieser u&#x0364;berlegenen Kraft diese seyn, daß sie die alten Besitzer (sind sie noch                   nicht zu alt und haben sie sich dem ganzen Menschen noch nicht zu nothwendig und                   wegen verschiedener Gru&#x0364;nde zu interessant gemacht) vertreiben &#x2014; sich ihrer Stelle                   versichern &#x2014; und nun mit dem nehmlichen Rechte und vielleicht wieder mit der                   nehmlichen Gefahr die Regierung der Seele fu&#x0364;hren. </p>
            <div n="4">
              <head>Folge meines Lebens in einem Schreiben an meinen Bruder: </head><lb/>
              <p>Wie oft, lieber Bruder! dachte ich schon, wie oft denke ich an Dich, wie es Dir                   gehe, was fu&#x0364;r ein Verha&#x0364;ltniß Dir das Schicksal bestimmt habe? Wie so oft schon                   erfu&#x0364;llte der innige Wunsch mein Herze? Mo&#x0364;chte ich Dich noch einmal sehen, Dich                   noch einmal in meine Armen einschließen, noch einmal bei Dir die Bruderliebe in                   ihrer tha&#x0364;tigsten Aeußerung, in ihrer wa&#x0364;rmsten Gluth fu&#x0364;hlen! Aber wann wird der                   Moment der Befriedigung aller die-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[64/0064] in dem Menschen dagewesene Modifikation der Seelenorganen dauert fort im ersten geruͤhrten Tone, bis entweder zu viele, obgleich minder lebhafte Vorwuͤrfe sie verwirren, dann verdunkeln, dann vernichten; sich selbst als Tirannen der Seele und ihrer Stimmung eindraͤngen, oder bis ein anderer gleichartiger koͤmmt — und denselben Seelenzustand befestiget; wenn aber die ungleichartigen Eindruͤcke staͤrker sind — so muß nothwendig die Wirkung dieser uͤberlegenen Kraft diese seyn, daß sie die alten Besitzer (sind sie noch nicht zu alt und haben sie sich dem ganzen Menschen noch nicht zu nothwendig und wegen verschiedener Gruͤnde zu interessant gemacht) vertreiben — sich ihrer Stelle versichern — und nun mit dem nehmlichen Rechte und vielleicht wieder mit der nehmlichen Gefahr die Regierung der Seele fuͤhren. Folge meines Lebens in einem Schreiben an meinen Bruder: Wie oft, lieber Bruder! dachte ich schon, wie oft denke ich an Dich, wie es Dir gehe, was fuͤr ein Verhaͤltniß Dir das Schicksal bestimmt habe? Wie so oft schon erfuͤllte der innige Wunsch mein Herze? Moͤchte ich Dich noch einmal sehen, Dich noch einmal in meine Armen einschließen, noch einmal bei Dir die Bruderliebe in ihrer thaͤtigsten Aeußerung, in ihrer waͤrmsten Gluth fuͤhlen! Aber wann wird der Moment der Befriedigung aller die-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786/64
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786/64>, abgerufen am 21.11.2024.