Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786.
Jch kann also nicht eigentlich sagen, daß ich unter den übereinandergelegten Fingern zwei Kügelchen statt eines fühle, sondern ich schließe dieß bloß, weil sonst immer zwei Kügelchen erfordert werden, um dieselbe Empfindung bei mir hervorzubringen, die jetzt durch eins hervorgebracht wird. Das eine Kügelchen kann sonst nie zugleich unter beiden Fingern seyn: lege ich aber beide Finger übereinander, so fühle ich eine und dieselbe Kugel zugleich unter beiden Fingern, und schließe daher, daß es zwei Kugeln sind, weil dasjenige, was war, unmöglich in demselben Augenblick, wo es war, auch ist; indem aber das Kügelchen sanft unter den Fingern rollt, so entschlüpft das ist dem war, und das war dem ist; der gegenwärtige Augenblick verschwimmt sich in den vergangnen, und der vergangne in den gegenwärtigen, wie Farben, die im Wiederschein ineinanderspielen; -- darum muß auch dasjenige, was man unter den übereinandergelegten Fingern reibt, nothwendig gerundet seyn, wenn es die Täuschung hervorbringen
Jch kann also nicht eigentlich sagen, daß ich unter den uͤbereinandergelegten Fingern zwei Kuͤgelchen statt eines fuͤhle, sondern ich schließe dieß bloß, weil sonst immer zwei Kuͤgelchen erfordert werden, um dieselbe Empfindung bei mir hervorzubringen, die jetzt durch eins hervorgebracht wird. Das eine Kuͤgelchen kann sonst nie zugleich unter beiden Fingern seyn: lege ich aber beide Finger uͤbereinander, so fuͤhle ich eine und dieselbe Kugel zugleich unter beiden Fingern, und schließe daher, daß es zwei Kugeln sind, weil dasjenige, was war, unmoͤglich in demselben Augenblick, wo es war, auch ist; indem aber das Kuͤgelchen sanft unter den Fingern rollt, so entschluͤpft das ist dem war, und das war dem ist; der gegenwaͤrtige Augenblick verschwimmt sich in den vergangnen, und der vergangne in den gegenwaͤrtigen, wie Farben, die im Wiederschein ineinanderspielen; — darum muß auch dasjenige, was man unter den uͤbereinandergelegten Fingern reibt, nothwendig gerundet seyn, wenn es die Taͤuschung hervorbringen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0110" n="110"/><lb/> aber keine <hi rendition="#b">Wahrheit</hi> — oder vielmehr das <hi rendition="#b">war</hi> und <hi rendition="#b">ist</hi> fließt zu sehr in eins zusammen: dieselbe Kugel, die bis jetzt unter dem einen Finger <hi rendition="#b">war, ist</hi> zu gleicher Zeit unter dem andern — weil nun ein und eben derselbe Eindruck nicht zugleich vergangen und gegenwaͤrtig seyn kann, so finde ich mich genoͤthigt zwei voneinander verschiedne Eindruͤcke anzunehmen. </p> <p>Jch kann also nicht eigentlich sagen, daß ich unter den uͤbereinandergelegten Fingern zwei Kuͤgelchen statt eines fuͤhle, sondern <hi rendition="#b">ich schließe</hi> dieß bloß, weil sonst immer zwei Kuͤgelchen erfordert werden, um dieselbe Empfindung bei mir hervorzubringen, die jetzt durch eins hervorgebracht wird. </p> <p>Das eine Kuͤgelchen kann sonst nie <hi rendition="#b">zugleich</hi> unter beiden Fingern seyn: lege ich aber beide Finger uͤbereinander, so fuͤhle ich eine und dieselbe Kugel zugleich unter beiden Fingern, und schließe daher, daß es zwei Kugeln sind, weil dasjenige, was war, unmoͤglich in demselben Augenblick, wo es <hi rendition="#b">war,</hi> auch <hi rendition="#b">ist;</hi> indem aber das Kuͤgelchen sanft unter den Fingern <hi rendition="#b">rollt,</hi> so entschluͤpft das <hi rendition="#b">ist</hi> dem <hi rendition="#b">war,</hi> und das <hi rendition="#b">war</hi> dem <hi rendition="#b">ist;</hi> der gegenwaͤrtige Augenblick verschwimmt sich in den vergangnen, und der vergangne in den gegenwaͤrtigen, wie Farben, die im Wiederschein ineinanderspielen; — darum muß auch dasjenige, was man unter den uͤbereinandergelegten Fingern reibt, nothwendig <hi rendition="#b">gerundet</hi> seyn, wenn es die Taͤuschung hervorbringen<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [110/0110]
aber keine Wahrheit — oder vielmehr das war und ist fließt zu sehr in eins zusammen: dieselbe Kugel, die bis jetzt unter dem einen Finger war, ist zu gleicher Zeit unter dem andern — weil nun ein und eben derselbe Eindruck nicht zugleich vergangen und gegenwaͤrtig seyn kann, so finde ich mich genoͤthigt zwei voneinander verschiedne Eindruͤcke anzunehmen.
Jch kann also nicht eigentlich sagen, daß ich unter den uͤbereinandergelegten Fingern zwei Kuͤgelchen statt eines fuͤhle, sondern ich schließe dieß bloß, weil sonst immer zwei Kuͤgelchen erfordert werden, um dieselbe Empfindung bei mir hervorzubringen, die jetzt durch eins hervorgebracht wird.
Das eine Kuͤgelchen kann sonst nie zugleich unter beiden Fingern seyn: lege ich aber beide Finger uͤbereinander, so fuͤhle ich eine und dieselbe Kugel zugleich unter beiden Fingern, und schließe daher, daß es zwei Kugeln sind, weil dasjenige, was war, unmoͤglich in demselben Augenblick, wo es war, auch ist; indem aber das Kuͤgelchen sanft unter den Fingern rollt, so entschluͤpft das ist dem war, und das war dem ist; der gegenwaͤrtige Augenblick verschwimmt sich in den vergangnen, und der vergangne in den gegenwaͤrtigen, wie Farben, die im Wiederschein ineinanderspielen; — darum muß auch dasjenige, was man unter den uͤbereinandergelegten Fingern reibt, nothwendig gerundet seyn, wenn es die Taͤuschung hervorbringen
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786/110>, abgerufen am 21.07.2024. |