Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786.
Betrübt über mein Schicksal ging ich einst mit dem Rektor zu meiner Mutter. Unterwegs begegneten wir dem Herrn von S**, der mich noch als einen kleinen Jungen gekannt hatte. Er fragte mich nach meinem Befinden -- allein ich konnte ihm vor Schluchzen nicht antworten. Er mochte diese Sprache verstehn, und redete deswegen bei Seite mit dem Rektor. Darauf empfahlen wir uns. Als wir eine Strecke Wegs gegangen waren, sagte mir der Rektor die erfreuliche Nachricht: daß der Herr von S** für mein ferneres Fortkommen sorgen und mich auf eine andre Schule bringen wolle. Froh über diese Botschaft erlangte ich wieder meine vorige Heiterkeit und wartete nun mit Sehnsucht auf den Augenblick, wo ich Ordre bekommen würde, abzureisen. Sie kam. Jch verlies den Ort mit gerührtem Herzen, wo mirs in so manchem Betracht wohl gegangen war, wo ich so manches Gute, aber auch manches Böse gelernt hatte. Jch eilte aus einem Städtchen, wo Wollust und Verschwendung einen großen Theil der Ein-
Betruͤbt uͤber mein Schicksal ging ich einst mit dem Rektor zu meiner Mutter. Unterwegs begegneten wir dem Herrn von S**, der mich noch als einen kleinen Jungen gekannt hatte. Er fragte mich nach meinem Befinden — allein ich konnte ihm vor Schluchzen nicht antworten. Er mochte diese Sprache verstehn, und redete deswegen bei Seite mit dem Rektor. Darauf empfahlen wir uns. Als wir eine Strecke Wegs gegangen waren, sagte mir der Rektor die erfreuliche Nachricht: daß der Herr von S** fuͤr mein ferneres Fortkommen sorgen und mich auf eine andre Schule bringen wolle. Froh uͤber diese Botschaft erlangte ich wieder meine vorige Heiterkeit und wartete nun mit Sehnsucht auf den Augenblick, wo ich Ordre bekommen wuͤrde, abzureisen. Sie kam. Jch verlies den Ort mit geruͤhrtem Herzen, wo mirs in so manchem Betracht wohl gegangen war, wo ich so manches Gute, aber auch manches Boͤse gelernt hatte. Jch eilte aus einem Staͤdtchen, wo Wollust und Verschwendung einen großen Theil der Ein- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0039" n="39"/><lb/> trieb mich an, Vokabeln fleißig zu lernen, in der Bibel und im Katechismus zu studiren. Jch fing an zu gruͤbeln, und gerieth daruͤber auf manche Zweifel, die mich beunruhigten und manche Thraͤne kosteten. Niemand aber wieß mich zurechte, sondern man schalt mich, anstatt mir Trost einzusprechen, einen Narren. </p> <p>Betruͤbt uͤber mein Schicksal ging ich einst mit dem Rektor zu meiner Mutter. Unterwegs begegneten wir dem Herrn von <hi rendition="#b">S**,</hi> der mich noch als einen kleinen Jungen gekannt hatte. Er fragte mich nach meinem Befinden — allein ich konnte ihm vor Schluchzen nicht antworten. Er mochte diese Sprache verstehn, und redete deswegen bei Seite mit dem Rektor. Darauf empfahlen wir uns. Als wir eine Strecke Wegs gegangen waren, sagte mir der Rektor die erfreuliche Nachricht: daß der Herr von <hi rendition="#b">S**</hi> fuͤr mein ferneres Fortkommen sorgen und mich auf eine andre Schule bringen wolle. Froh uͤber diese Botschaft erlangte ich wieder meine vorige Heiterkeit und wartete nun mit Sehnsucht auf den Augenblick, wo ich Ordre bekommen wuͤrde, abzureisen. Sie kam. Jch verlies den Ort mit geruͤhrtem Herzen, wo mirs in so manchem Betracht wohl gegangen war, wo ich so manches Gute, aber auch manches Boͤse gelernt hatte. </p> <p>Jch eilte aus einem Staͤdtchen, wo Wollust und Verschwendung einen großen Theil der Ein-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [39/0039]
trieb mich an, Vokabeln fleißig zu lernen, in der Bibel und im Katechismus zu studiren. Jch fing an zu gruͤbeln, und gerieth daruͤber auf manche Zweifel, die mich beunruhigten und manche Thraͤne kosteten. Niemand aber wieß mich zurechte, sondern man schalt mich, anstatt mir Trost einzusprechen, einen Narren.
Betruͤbt uͤber mein Schicksal ging ich einst mit dem Rektor zu meiner Mutter. Unterwegs begegneten wir dem Herrn von S**, der mich noch als einen kleinen Jungen gekannt hatte. Er fragte mich nach meinem Befinden — allein ich konnte ihm vor Schluchzen nicht antworten. Er mochte diese Sprache verstehn, und redete deswegen bei Seite mit dem Rektor. Darauf empfahlen wir uns. Als wir eine Strecke Wegs gegangen waren, sagte mir der Rektor die erfreuliche Nachricht: daß der Herr von S** fuͤr mein ferneres Fortkommen sorgen und mich auf eine andre Schule bringen wolle. Froh uͤber diese Botschaft erlangte ich wieder meine vorige Heiterkeit und wartete nun mit Sehnsucht auf den Augenblick, wo ich Ordre bekommen wuͤrde, abzureisen. Sie kam. Jch verlies den Ort mit geruͤhrtem Herzen, wo mirs in so manchem Betracht wohl gegangen war, wo ich so manches Gute, aber auch manches Boͤse gelernt hatte.
Jch eilte aus einem Staͤdtchen, wo Wollust und Verschwendung einen großen Theil der Ein-
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(2015-06-09T11:00:00Z)
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Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat
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