Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786.5. Verrückung aus Liebe. Ein Mädchen von ungefähr neunzehn Jahren, welche die Natur außer allen Reitzen weiblicher Schönheit mit einem guten Herzen ausgestattet hatte, war der Stolz ihrer wohlhabenden Eltern. Jhre zärtliche Liebe zu ihrer einzigen Tochter machte, daß sie sie allzusehr verzärtelten und ein eigensinniges, mürrisches, empfindsames Geschöpf an ihr erzogen. Zu keiner weiblichen Arbeit angehalten, saß sie beständig und las in Büchern, zwar in lauter guten, als Gellerts und Weißens Schriften, aber selbst diese machten sie zu einer frommen Empfindsamen, die beständig betete und sang, und darüber alle Arbeit, sich selbst und die Menschen vergaß. Sie genoß selten der freien Luft und des gesellschaftlichen Umgangs, daher wurde sie zurückhaltend und schüchtern. Starkes Getränke, als Kaffee, genoß sie täglich, und an Appetit fehlte es ihr nie, daher wurde sie groß und stark, bekam aber ein unnatürliches Phlegma. Jtzt trat sie in den Zeitpunkt, wo sich neue Gefühle in ihr regten, wo ihr Herz bei dem Anblick eines Mannes stärker als vordem schlug. Die Reitze des Mädchens und ihr Vermögen lockten manchen Verehrer herbei, aber keiner gefiel ihr, und ihr mürrisches und einfältiges Betragen verscheuchte einen nach dem an- 5. Verruͤckung aus Liebe. Ein Maͤdchen von ungefaͤhr neunzehn Jahren, welche die Natur außer allen Reitzen weiblicher Schoͤnheit mit einem guten Herzen ausgestattet hatte, war der Stolz ihrer wohlhabenden Eltern. Jhre zaͤrtliche Liebe zu ihrer einzigen Tochter machte, daß sie sie allzusehr verzaͤrtelten und ein eigensinniges, muͤrrisches, empfindsames Geschoͤpf an ihr erzogen. Zu keiner weiblichen Arbeit angehalten, saß sie bestaͤndig und las in Buͤchern, zwar in lauter guten, als Gellerts und Weißens Schriften, aber selbst diese machten sie zu einer frommen Empfindsamen, die bestaͤndig betete und sang, und daruͤber alle Arbeit, sich selbst und die Menschen vergaß. Sie genoß selten der freien Luft und des gesellschaftlichen Umgangs, daher wurde sie zuruͤckhaltend und schuͤchtern. Starkes Getraͤnke, als Kaffee, genoß sie taͤglich, und an Appetit fehlte es ihr nie, daher wurde sie groß und stark, bekam aber ein unnatuͤrliches Phlegma. Jtzt trat sie in den Zeitpunkt, wo sich neue Gefuͤhle in ihr regten, wo ihr Herz bei dem Anblick eines Mannes staͤrker als vordem schlug. Die Reitze des Maͤdchens und ihr Vermoͤgen lockten manchen Verehrer herbei, aber keiner gefiel ihr, und ihr muͤrrisches und einfaͤltiges Betragen verscheuchte einen nach dem an- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0043" n="43"/><lb/><lb/> </div> <div n="3"> <head> 5. Verruͤckung aus Liebe.</head><lb/> <note type="editorial"> <bibl> <persName ref="#ref98"><note type="editorial"/>Anonym</persName> </bibl> </note> <p>Ein Maͤdchen von ungefaͤhr neunzehn Jahren, welche die Natur außer allen Reitzen weiblicher Schoͤnheit mit einem guten Herzen ausgestattet hatte, war der Stolz ihrer wohlhabenden Eltern. Jhre zaͤrtliche Liebe zu ihrer einzigen Tochter machte, daß sie sie allzusehr verzaͤrtelten und ein eigensinniges, muͤrrisches, empfindsames Geschoͤpf an ihr erzogen. Zu keiner weiblichen Arbeit angehalten, saß sie bestaͤndig und las in Buͤchern, zwar in lauter guten, als <hi rendition="#b">Gellerts</hi> und <hi rendition="#b">Weißens</hi> Schriften, aber selbst diese machten sie zu einer frommen Empfindsamen, die bestaͤndig betete und sang, und daruͤber alle Arbeit, sich selbst und die Menschen vergaß. Sie genoß selten der freien Luft und des gesellschaftlichen Umgangs, daher wurde sie zuruͤckhaltend und schuͤchtern. Starkes Getraͤnke, als Kaffee, genoß sie taͤglich, und an Appetit fehlte es ihr nie, daher wurde sie groß und stark, bekam aber ein unnatuͤrliches Phlegma. Jtzt trat sie in den Zeitpunkt, wo sich neue Gefuͤhle in ihr regten, wo ihr Herz bei dem Anblick eines Mannes staͤrker als vordem schlug. Die Reitze des Maͤdchens und ihr Vermoͤgen lockten manchen Verehrer herbei, aber keiner gefiel ihr, und ihr muͤrrisches und einfaͤltiges Betragen verscheuchte einen nach dem an-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [43/0043]
5. Verruͤckung aus Liebe.
Ein Maͤdchen von ungefaͤhr neunzehn Jahren, welche die Natur außer allen Reitzen weiblicher Schoͤnheit mit einem guten Herzen ausgestattet hatte, war der Stolz ihrer wohlhabenden Eltern. Jhre zaͤrtliche Liebe zu ihrer einzigen Tochter machte, daß sie sie allzusehr verzaͤrtelten und ein eigensinniges, muͤrrisches, empfindsames Geschoͤpf an ihr erzogen. Zu keiner weiblichen Arbeit angehalten, saß sie bestaͤndig und las in Buͤchern, zwar in lauter guten, als Gellerts und Weißens Schriften, aber selbst diese machten sie zu einer frommen Empfindsamen, die bestaͤndig betete und sang, und daruͤber alle Arbeit, sich selbst und die Menschen vergaß. Sie genoß selten der freien Luft und des gesellschaftlichen Umgangs, daher wurde sie zuruͤckhaltend und schuͤchtern. Starkes Getraͤnke, als Kaffee, genoß sie taͤglich, und an Appetit fehlte es ihr nie, daher wurde sie groß und stark, bekam aber ein unnatuͤrliches Phlegma. Jtzt trat sie in den Zeitpunkt, wo sich neue Gefuͤhle in ihr regten, wo ihr Herz bei dem Anblick eines Mannes staͤrker als vordem schlug. Die Reitze des Maͤdchens und ihr Vermoͤgen lockten manchen Verehrer herbei, aber keiner gefiel ihr, und ihr muͤrrisches und einfaͤltiges Betragen verscheuchte einen nach dem an-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien
(2015-06-09T11:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat
(2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2015-06-09T11:00:00Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |