Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786.
Jemehr ich an Belesenheit, Kenntniß und eigener Verstandseinsicht zunahm, destomehr sah ich das Lächerliche dieser Gewohnheit ein; suchte sie auszurotten, und vermogt' es nicht. Aber, mich ganz gegen Unrecht unempfindlich zu machen, hielt ich auch pflichtwidrig; und nun, wenn ich Unrecht zu leiden glaube, so erwäge ich die Gründe für und wider auf das genaueste, und schlage mich nachher gerne zum Uebergewicht; und wenn dieses auf meine Seite fällt, so habe ich Wochenlang zu arbeiten, bis die Betrübniß, die Selbstlast und der stille Kummer, die mein Herz und alle meine Sinnen bis zur Betäubung, zu dem schmerzhaftesten Gefühle dahinreißen, aus meiner Brust entweichen. Aber der Gedanke der Beleidigung wird nie aus meinem Andenken verlöschen; und mein Gemüth wird sich nicht ehe wieder der vollen Heiterkeit, und
Jemehr ich an Belesenheit, Kenntniß und eigener Verstandseinsicht zunahm, destomehr sah ich das Laͤcherliche dieser Gewohnheit ein; suchte sie auszurotten, und vermogt' es nicht. Aber, mich ganz gegen Unrecht unempfindlich zu machen, hielt ich auch pflichtwidrig; und nun, wenn ich Unrecht zu leiden glaube, so erwaͤge ich die Gruͤnde fuͤr und wider auf das genaueste, und schlage mich nachher gerne zum Uebergewicht; und wenn dieses auf meine Seite faͤllt, so habe ich Wochenlang zu arbeiten, bis die Betruͤbniß, die Selbstlast und der stille Kummer, die mein Herz und alle meine Sinnen bis zur Betaͤubung, zu dem schmerzhaftesten Gefuͤhle dahinreißen, aus meiner Brust entweichen. Aber der Gedanke der Beleidigung wird nie aus meinem Andenken verloͤschen; und mein Gemuͤth wird sich nicht ehe wieder der vollen Heiterkeit, und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0093" n="93"/><lb/> alle unsre uͤbrigen Geschwister außerordentlich geneigt zu klagen und zum Thraͤnenvergießen bei der geringsten, unbedeutendsten Vorstellung waren, daß wir, oder die Eltern, oder sonst ein guter, unschuldiger Mensch unrecht leide. Jch weiß, wie beruhigend fuͤr mich war dieses Gefuͤhl, und wie erquickend eine Thraͤne. Und um Ueberzeugung zu haben, denn oft war ich offenbar selbst auch Ursache des Unrechts, suchte ich alle moͤgliche Gruͤnde auf, fuͤr die Wahrheit meiner Empfindung, und um die entgegengesetzte Gruͤnde zu verdunkeln, zu entnerven. Eben dies thut auch unsre Mutter.</p> <p>Jemehr ich an Belesenheit, Kenntniß und eigener Verstandseinsicht zunahm, destomehr sah ich das Laͤcherliche dieser Gewohnheit ein; suchte sie auszurotten, und vermogt' es nicht. Aber, mich ganz gegen Unrecht unempfindlich zu machen, hielt ich auch pflichtwidrig; und nun, wenn ich Unrecht zu leiden glaube, so erwaͤge ich die Gruͤnde fuͤr und wider auf das genaueste, und schlage mich nachher gerne zum Uebergewicht; und wenn dieses auf meine Seite faͤllt, so habe ich Wochenlang zu arbeiten, bis die Betruͤbniß, die Selbstlast und der stille Kummer, die mein Herz und alle meine Sinnen bis zur Betaͤubung, zu dem schmerzhaftesten Gefuͤhle dahinreißen, aus meiner Brust entweichen. Aber der Gedanke der Beleidigung wird nie aus meinem Andenken verloͤschen; und mein Gemuͤth wird sich nicht ehe wieder der vollen Heiterkeit, und<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [93/0093]
alle unsre uͤbrigen Geschwister außerordentlich geneigt zu klagen und zum Thraͤnenvergießen bei der geringsten, unbedeutendsten Vorstellung waren, daß wir, oder die Eltern, oder sonst ein guter, unschuldiger Mensch unrecht leide. Jch weiß, wie beruhigend fuͤr mich war dieses Gefuͤhl, und wie erquickend eine Thraͤne. Und um Ueberzeugung zu haben, denn oft war ich offenbar selbst auch Ursache des Unrechts, suchte ich alle moͤgliche Gruͤnde auf, fuͤr die Wahrheit meiner Empfindung, und um die entgegengesetzte Gruͤnde zu verdunkeln, zu entnerven. Eben dies thut auch unsre Mutter.
Jemehr ich an Belesenheit, Kenntniß und eigener Verstandseinsicht zunahm, destomehr sah ich das Laͤcherliche dieser Gewohnheit ein; suchte sie auszurotten, und vermogt' es nicht. Aber, mich ganz gegen Unrecht unempfindlich zu machen, hielt ich auch pflichtwidrig; und nun, wenn ich Unrecht zu leiden glaube, so erwaͤge ich die Gruͤnde fuͤr und wider auf das genaueste, und schlage mich nachher gerne zum Uebergewicht; und wenn dieses auf meine Seite faͤllt, so habe ich Wochenlang zu arbeiten, bis die Betruͤbniß, die Selbstlast und der stille Kummer, die mein Herz und alle meine Sinnen bis zur Betaͤubung, zu dem schmerzhaftesten Gefuͤhle dahinreißen, aus meiner Brust entweichen. Aber der Gedanke der Beleidigung wird nie aus meinem Andenken verloͤschen; und mein Gemuͤth wird sich nicht ehe wieder der vollen Heiterkeit, und
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786/93>, abgerufen am 16.02.2025. |