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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.

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lich alle seine Bekannte, todte und lebende der Reihe nach, aber mit dem Unterschiede vorübergehen sah, daß die noch lebenden Glücklichen seiner Bekannten ihn alle freundlich ansahen und stehen blieben; diejenigen aber, von denen er schon wußte, daß sie unglücklich und mißvergnügt lebten, alle mit der Hand vor den Augen schnell, ohne sich umzusehen, in dem Spiegel vorübergingen. Jhnen folgte noch eine Anzahl, welche gleichfalls die Hand vors Gesicht hielten, von deren unglücklichen Schicksalen er aber keine Kunde hatte. (Er schrieb hernach an mehrere von diesen Letztern seinen Traum, und erkundigte sich nach ihren jetzigen Lagen, welche auch alle richtig mit seinem Traumgesicht übereintrafen.)

Die Verstorbenen, die er in diesem Spiegel sah, hatten eine ganz eigene und einförmige Kleidung, blieben einige Augenblicke vor ihm stehen, und winkten ihm freundlich mit der Hand zu. Einige aber schwanden, die Hand vor ihre Augen haltend, blitzschnell vorüber, doch so, daß er sie erkennen konnte. Dieses war ihm das Schrecklichste bei seinem Traume gewesen, und er brach immer, wenn er auf diesen Punkt kam, schnell in seiner Erzählung ab, so wie er überhaupt den ganzen Traum nicht leicht ohne einige Herzensrührung und ohne Thränen erzählen konnte.

Jetzt wachte er zum zweitenmahl auf. Seine innere Bangigkeit, die er fühlte, trieb ihn aus dem Bette, er ging ans Fenster und suchte sich zu zer-


lich alle seine Bekannte, todte und lebende der Reihe nach, aber mit dem Unterschiede voruͤbergehen sah, daß die noch lebenden Gluͤcklichen seiner Bekannten ihn alle freundlich ansahen und stehen blieben; diejenigen aber, von denen er schon wußte, daß sie ungluͤcklich und mißvergnuͤgt lebten, alle mit der Hand vor den Augen schnell, ohne sich umzusehen, in dem Spiegel voruͤbergingen. Jhnen folgte noch eine Anzahl, welche gleichfalls die Hand vors Gesicht hielten, von deren ungluͤcklichen Schicksalen er aber keine Kunde hatte. (Er schrieb hernach an mehrere von diesen Letztern seinen Traum, und erkundigte sich nach ihren jetzigen Lagen, welche auch alle richtig mit seinem Traumgesicht uͤbereintrafen.)

Die Verstorbenen, die er in diesem Spiegel sah, hatten eine ganz eigene und einfoͤrmige Kleidung, blieben einige Augenblicke vor ihm stehen, und winkten ihm freundlich mit der Hand zu. Einige aber schwanden, die Hand vor ihre Augen haltend, blitzschnell voruͤber, doch so, daß er sie erkennen konnte. Dieses war ihm das Schrecklichste bei seinem Traume gewesen, und er brach immer, wenn er auf diesen Punkt kam, schnell in seiner Erzaͤhlung ab, so wie er uͤberhaupt den ganzen Traum nicht leicht ohne einige Herzensruͤhrung und ohne Thraͤnen erzaͤhlen konnte.

Jetzt wachte er zum zweitenmahl auf. Seine innere Bangigkeit, die er fuͤhlte, trieb ihn aus dem Bette, er ging ans Fenster und suchte sich zu zer-

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[58/0060] lich alle seine Bekannte, todte und lebende der Reihe nach, aber mit dem Unterschiede voruͤbergehen sah, daß die noch lebenden Gluͤcklichen seiner Bekannten ihn alle freundlich ansahen und stehen blieben; diejenigen aber, von denen er schon wußte, daß sie ungluͤcklich und mißvergnuͤgt lebten, alle mit der Hand vor den Augen schnell, ohne sich umzusehen, in dem Spiegel voruͤbergingen. Jhnen folgte noch eine Anzahl, welche gleichfalls die Hand vors Gesicht hielten, von deren ungluͤcklichen Schicksalen er aber keine Kunde hatte. (Er schrieb hernach an mehrere von diesen Letztern seinen Traum, und erkundigte sich nach ihren jetzigen Lagen, welche auch alle richtig mit seinem Traumgesicht uͤbereintrafen.) Die Verstorbenen, die er in diesem Spiegel sah, hatten eine ganz eigene und einfoͤrmige Kleidung, blieben einige Augenblicke vor ihm stehen, und winkten ihm freundlich mit der Hand zu. Einige aber schwanden, die Hand vor ihre Augen haltend, blitzschnell voruͤber, doch so, daß er sie erkennen konnte. Dieses war ihm das Schrecklichste bei seinem Traume gewesen, und er brach immer, wenn er auf diesen Punkt kam, schnell in seiner Erzaͤhlung ab, so wie er uͤberhaupt den ganzen Traum nicht leicht ohne einige Herzensruͤhrung und ohne Thraͤnen erzaͤhlen konnte. Jetzt wachte er zum zweitenmahl auf. Seine innere Bangigkeit, die er fuͤhlte, trieb ihn aus dem Bette, er ging ans Fenster und suchte sich zu zer-

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/60>, abgerufen am 16.05.2024.