Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.
Jch kann in dem uns mitgetheilten sonderbaren Traum des Herrn von eben nicht viel Sonderbares finden, außer, daß er im Schlafe ein Seckendorffwürkliches Gedicht, und noch dazu eine Composition desselben machte, wovon aber doch auch in der psychologischen Geschichte der Träumereien mehrere Beispiele vorkommen. Was war natürlicher, als daß einem Manne, der gewiß oft über die Reihe seiner Schicksale nachgedacht hatte, auch sie wohl einmahl noch ganz wie in einem Spiegel zu überschauen wünschte, im Traume ein anderer mit einem Spiegel erschien, und ihm darin die Folge seines Lebens vermöge seiner lebhaften Einbildungskraft deutlich sehen ließ? Es ist bekannt, daß diese Seelenkraft im Schlafe, wenn unsere Sinnen ruhen, und sie ungestöhrt und ganz allein würken kann, oft mit der größten Lebhaftigkeit uns an Begebenheiten erinnert, die wir lange schon vergessen hatten. Es war also eine gewöhnliche und natürliche Folge dieser Lebhaftigkeit, daß er sich als ein Kind in dem Spiegel mit einer Menge von Umständen wiedererblickte, die er schon längst vergessen haben konnte, - und was war vollends natürlicher, als daß man seine ehemalige Geliebte auf ei-
Jch kann in dem uns mitgetheilten sonderbaren Traum des Herrn von eben nicht viel Sonderbares finden, außer, daß er im Schlafe ein Seckendorffwuͤrkliches Gedicht, und noch dazu eine Composition desselben machte, wovon aber doch auch in der psychologischen Geschichte der Traͤumereien mehrere Beispiele vorkommen. Was war natuͤrlicher, als daß einem Manne, der gewiß oft uͤber die Reihe seiner Schicksale nachgedacht hatte, auch sie wohl einmahl noch ganz wie in einem Spiegel zu uͤberschauen wuͤnschte, im Traume ein anderer mit einem Spiegel erschien, und ihm darin die Folge seines Lebens vermoͤge seiner lebhaften Einbildungskraft deutlich sehen ließ? Es ist bekannt, daß diese Seelenkraft im Schlafe, wenn unsere Sinnen ruhen, und sie ungestoͤhrt und ganz allein wuͤrken kann, oft mit der groͤßten Lebhaftigkeit uns an Begebenheiten erinnert, die wir lange schon vergessen hatten. Es war also eine gewoͤhnliche und natuͤrliche Folge dieser Lebhaftigkeit, daß er sich als ein Kind in dem Spiegel mit einer Menge von Umstaͤnden wiedererblickte, die er schon laͤngst vergessen haben konnte, – und was war vollends natuͤrlicher, als daß man seine ehemalige Geliebte auf ei- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0062" n="60"/><lb/> auch zugleich componirte. Er erwachte aufs neue, stand auf, ließ sich Licht bringen, und schrieb den ganzen Traum, nebst dem Gedicht und der Composition noch in der nehmlichen Nacht auf, wie es im October des Merkurs 1784. steht.</p> <p>Jch kann in dem uns mitgetheilten sonderbaren Traum des Herrn von <persName ref="#ref0123"><note type="editorial">Seckendorf, Siegmund Freiherr von</note>Seckendorff</persName> eben nicht viel Sonderbares finden, außer, daß er im Schlafe ein <choice><corr>wuͤrkliches</corr><sic>natuͤrliches [s. Druckfehlerverzeichnis MzE 5.3]</sic></choice> Gedicht, und noch dazu eine Composition desselben machte, wovon aber doch auch in der psychologischen Geschichte der Traͤumereien mehrere Beispiele vorkommen. Was war natuͤrlicher, als daß einem Manne, der gewiß oft uͤber die Reihe seiner Schicksale nachgedacht hatte, auch sie wohl einmahl noch ganz wie in einem Spiegel zu uͤberschauen wuͤnschte, im Traume ein anderer mit einem Spiegel erschien, und ihm darin die Folge seines Lebens vermoͤge seiner lebhaften Einbildungskraft deutlich sehen ließ? Es ist bekannt, daß diese Seelenkraft im Schlafe, wenn unsere Sinnen ruhen, und sie ungestoͤhrt und ganz allein wuͤrken kann, oft mit der groͤßten Lebhaftigkeit uns an Begebenheiten erinnert, die wir lange schon vergessen hatten. Es war <hi rendition="#b">also eine gewoͤhnliche und natuͤrliche Folge</hi> dieser Lebhaftigkeit, daß er sich als ein Kind in dem Spiegel mit einer Menge von Umstaͤnden wiedererblickte, die er schon laͤngst vergessen haben konnte, – und was war vollends natuͤrlicher, als daß man seine ehemalige Geliebte auf ei-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [60/0062]
auch zugleich componirte. Er erwachte aufs neue, stand auf, ließ sich Licht bringen, und schrieb den ganzen Traum, nebst dem Gedicht und der Composition noch in der nehmlichen Nacht auf, wie es im October des Merkurs 1784. steht.
Jch kann in dem uns mitgetheilten sonderbaren Traum des Herrn von Seckendorff eben nicht viel Sonderbares finden, außer, daß er im Schlafe ein wuͤrkliches Gedicht, und noch dazu eine Composition desselben machte, wovon aber doch auch in der psychologischen Geschichte der Traͤumereien mehrere Beispiele vorkommen. Was war natuͤrlicher, als daß einem Manne, der gewiß oft uͤber die Reihe seiner Schicksale nachgedacht hatte, auch sie wohl einmahl noch ganz wie in einem Spiegel zu uͤberschauen wuͤnschte, im Traume ein anderer mit einem Spiegel erschien, und ihm darin die Folge seines Lebens vermoͤge seiner lebhaften Einbildungskraft deutlich sehen ließ? Es ist bekannt, daß diese Seelenkraft im Schlafe, wenn unsere Sinnen ruhen, und sie ungestoͤhrt und ganz allein wuͤrken kann, oft mit der groͤßten Lebhaftigkeit uns an Begebenheiten erinnert, die wir lange schon vergessen hatten. Es war also eine gewoͤhnliche und natuͤrliche Folge dieser Lebhaftigkeit, daß er sich als ein Kind in dem Spiegel mit einer Menge von Umstaͤnden wiedererblickte, die er schon laͤngst vergessen haben konnte, – und was war vollends natuͤrlicher, als daß man seine ehemalige Geliebte auf ei-
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