Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.
Unser Zorn nimmt gemeiniglich in dem Maße zu, als der andere, den er betrift, kaltblütig und gleichgültig bleibt. Dies kommt wahrscheinlich daher, weil wir dadurch von ihm überwunden zu werden fürchten, weil jener uns zu verachten scheint, und weil überhaupt jede Gleichgültigkeit gegen unsre Leidenschaften etwas Unausstehliches für uns hat. Viele Leute, die sonst eben nicht sehr gesprächig und lebhaft sind, oder sich darin einzuschränken wissen, wenn sie in eine Gesellschaft kommen, werden von einer ganz ungewöhnlichen Lebhaftigkeit und Sprachseligkeit überrascht, wenn sie das erstemahl in ein fremdes Haus introducirt werden. Jhre Zunge läßt die Anwesenden nicht zu Worte kommen, und nicht selten wird der angestrengtere Ton ihrer Stimme jenen sehr lästig, ohne daß diese es merken. Die Neuheit der Gegenstände kann viel
Unser Zorn nimmt gemeiniglich in dem Maße zu, als der andere, den er betrift, kaltbluͤtig und gleichguͤltig bleibt. Dies kommt wahrscheinlich daher, weil wir dadurch von ihm uͤberwunden zu werden fuͤrchten, weil jener uns zu verachten scheint, und weil uͤberhaupt jede Gleichguͤltigkeit gegen unsre Leidenschaften etwas Unausstehliches fuͤr uns hat. Viele Leute, die sonst eben nicht sehr gespraͤchig und lebhaft sind, oder sich darin einzuschraͤnken wissen, wenn sie in eine Gesellschaft kommen, werden von einer ganz ungewoͤhnlichen Lebhaftigkeit und Sprachseligkeit uͤberrascht, wenn sie das erstemahl in ein fremdes Haus introducirt werden. Jhre Zunge laͤßt die Anwesenden nicht zu Worte kommen, und nicht selten wird der angestrengtere Ton ihrer Stimme jenen sehr laͤstig, ohne daß diese es merken. Die Neuheit der Gegenstaͤnde kann viel <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0072" n="70"/><lb/> durch einen Zuwink, den wir erhalten, leicht zu Freunden des unsern Zorn billigenden gemacht werden. Weil unsere Eitelkeit gemeiniglich mit bei unserm Zorne interessirt ist, und weil wir nicht selten uns mitten in unserer Hitze etwas zu vergeben glauben; so muß es uns allerdings sehr angenehm seyn, wenn ein Anderer unsere Parthie nimmt, und uns vor den ahnenden Gedanken sichert, als ob wir in den Augen Anderer durch unsern aufgebrachten Muth verlieren wuͤrden.</p> <p>Unser Zorn nimmt gemeiniglich <hi rendition="#b">in dem Maße</hi> zu, als der andere, den er betrift, <hi rendition="#b">kaltbluͤtig</hi> und <hi rendition="#b">gleichguͤltig</hi> bleibt. Dies kommt wahrscheinlich daher, weil wir dadurch von ihm uͤberwunden zu werden fuͤrchten, weil jener uns zu <hi rendition="#b">verachten</hi> scheint, und weil uͤberhaupt jede Gleichguͤltigkeit gegen unsre Leidenschaften etwas Unausstehliches fuͤr uns hat.</p> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <p>Viele Leute, die sonst eben nicht sehr gespraͤchig und lebhaft sind, oder sich darin einzuschraͤnken wissen, wenn sie in eine Gesellschaft kommen, werden von einer ganz ungewoͤhnlichen Lebhaftigkeit und Sprachseligkeit uͤberrascht, wenn sie das erstemahl in ein fremdes Haus introducirt werden. Jhre Zunge laͤßt die Anwesenden nicht zu Worte kommen, und nicht selten wird der angestrengtere Ton ihrer Stimme jenen sehr laͤstig, ohne daß diese es merken. Die Neuheit der Gegenstaͤnde kann viel<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [70/0072]
durch einen Zuwink, den wir erhalten, leicht zu Freunden des unsern Zorn billigenden gemacht werden. Weil unsere Eitelkeit gemeiniglich mit bei unserm Zorne interessirt ist, und weil wir nicht selten uns mitten in unserer Hitze etwas zu vergeben glauben; so muß es uns allerdings sehr angenehm seyn, wenn ein Anderer unsere Parthie nimmt, und uns vor den ahnenden Gedanken sichert, als ob wir in den Augen Anderer durch unsern aufgebrachten Muth verlieren wuͤrden.
Unser Zorn nimmt gemeiniglich in dem Maße zu, als der andere, den er betrift, kaltbluͤtig und gleichguͤltig bleibt. Dies kommt wahrscheinlich daher, weil wir dadurch von ihm uͤberwunden zu werden fuͤrchten, weil jener uns zu verachten scheint, und weil uͤberhaupt jede Gleichguͤltigkeit gegen unsre Leidenschaften etwas Unausstehliches fuͤr uns hat.
Viele Leute, die sonst eben nicht sehr gespraͤchig und lebhaft sind, oder sich darin einzuschraͤnken wissen, wenn sie in eine Gesellschaft kommen, werden von einer ganz ungewoͤhnlichen Lebhaftigkeit und Sprachseligkeit uͤberrascht, wenn sie das erstemahl in ein fremdes Haus introducirt werden. Jhre Zunge laͤßt die Anwesenden nicht zu Worte kommen, und nicht selten wird der angestrengtere Ton ihrer Stimme jenen sehr laͤstig, ohne daß diese es merken. Die Neuheit der Gegenstaͤnde kann viel
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/72>, abgerufen am 16.02.2025. |