Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.Bis in mein vierundzwanzigstes Jahr wurde ich von einer Leidenschaft gefoltert, die - ein Jeder kennt, bei welcher aber tausend weniger furchtsam sind, als ich es war, - von der Liebe. Nach dieser Zeit habe ich fast nichts mehr von ihren Stürmen empfunden, obgleich nicht die mindeste Veränderung in meiner Gesundheit vorgegangen war, ich auch gewiß nicht die Ursache davon, wie Cardan (in vita propria) in der Constellation der Planeten suchen konnte, - kurz, ich wurde auf einmahl gegen die Liebe kalt, und mich interessirte nichts weniger in der Welt als ein - Weib. Nie ist mir bei aller Lebhaftigkeit meines Temperaments und bei einem nicht geringen Maße von Phantasie der Gedanke eingefallen, ein Mädchen unglücklich zu machen, ob mir gleich dazu oft die Gelegenheiten nahe gelegt wurden. Jch gestehe, daß es bei mir nichtsweniger als ein hoher Grad des moralischen Gefühls oder Religion war, welche mich davon abhielt; - diese Bewegungsgründe haben selten stark auf mich in meiner Jugend gewürkt; aber meine Furchtsamkeit, verbunden mit einem erstaunlich zärtlichen Gefühl des Mitleids gegen gefallene Mädchen, ist der Wächter meiner Tugend gewesen. Selbst die freiwilligen und verachtungswürdigen Schlachtopfer unserer Sinnlichkeit sind für mich ein Gegenstand meines herzlichen Mitleids, - und ich denke noch mit Schrecken meiner Seele an ein solches Mädchen, welches in Bis in mein vierundzwanzigstes Jahr wurde ich von einer Leidenschaft gefoltert, die – ein Jeder kennt, bei welcher aber tausend weniger furchtsam sind, als ich es war, – von der Liebe. Nach dieser Zeit habe ich fast nichts mehr von ihren Stuͤrmen empfunden, obgleich nicht die mindeste Veraͤnderung in meiner Gesundheit vorgegangen war, ich auch gewiß nicht die Ursache davon, wie Cardan (in vita propria) in der Constellation der Planeten suchen konnte, – kurz, ich wurde auf einmahl gegen die Liebe kalt, und mich interessirte nichts weniger in der Welt als ein – Weib. Nie ist mir bei aller Lebhaftigkeit meines Temperaments und bei einem nicht geringen Maße von Phantasie der Gedanke eingefallen, ein Maͤdchen ungluͤcklich zu machen, ob mir gleich dazu oft die Gelegenheiten nahe gelegt wurden. Jch gestehe, daß es bei mir nichtsweniger als ein hoher Grad des moralischen Gefuͤhls oder Religion war, welche mich davon abhielt; – diese Bewegungsgruͤnde haben selten stark auf mich in meiner Jugend gewuͤrkt; aber meine Furchtsamkeit, verbunden mit einem erstaunlich zaͤrtlichen Gefuͤhl des Mitleids gegen gefallene Maͤdchen, ist der Waͤchter meiner Tugend gewesen. Selbst die freiwilligen und verachtungswuͤrdigen Schlachtopfer unserer Sinnlichkeit sind fuͤr mich ein Gegenstand meines herzlichen Mitleids, – und ich denke noch mit Schrecken meiner Seele an ein solches Maͤdchen, welches in <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0087" n="85"/><lb/> <p>Bis in mein vierundzwanzigstes Jahr wurde ich von einer Leidenschaft gefoltert, die – ein Jeder kennt, bei welcher aber tausend weniger furchtsam sind, als ich es war, – von der Liebe. Nach dieser Zeit habe ich fast nichts mehr von ihren Stuͤrmen empfunden, obgleich nicht die mindeste Veraͤnderung in meiner Gesundheit vorgegangen war, ich auch gewiß nicht die Ursache davon, wie <choice><corr>Cardan</corr><sic>Cordan</sic></choice> (in <hi rendition="#aq">vita propria</hi>) in der Constellation der Planeten suchen konnte, – kurz, ich wurde auf einmahl gegen die Liebe kalt, und mich interessirte nichts weniger in der Welt als ein – <hi rendition="#b">Weib.</hi></p> <p>Nie ist mir bei aller Lebhaftigkeit meines Temperaments und bei einem nicht geringen Maße von Phantasie der Gedanke eingefallen, ein Maͤdchen ungluͤcklich zu machen, ob mir gleich dazu oft die Gelegenheiten nahe gelegt wurden. Jch gestehe, daß es bei mir nichtsweniger als ein hoher Grad des <hi rendition="#b">moralischen Gefuͤhls</hi> oder <hi rendition="#b">Religion</hi> war, welche mich davon abhielt; – diese Bewegungsgruͤnde haben selten stark auf mich in meiner Jugend gewuͤrkt; aber meine <hi rendition="#b">Furchtsamkeit,</hi> verbunden mit einem erstaunlich <hi rendition="#b">zaͤrtlichen Gefuͤhl</hi> des Mitleids gegen gefallene Maͤdchen, ist der Waͤchter meiner Tugend gewesen. Selbst die freiwilligen und verachtungswuͤrdigen Schlachtopfer unserer Sinnlichkeit sind fuͤr mich ein Gegenstand meines herzlichen Mitleids, – und ich denke noch mit Schrecken meiner Seele an ein solches Maͤdchen, welches in<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [85/0087]
Bis in mein vierundzwanzigstes Jahr wurde ich von einer Leidenschaft gefoltert, die – ein Jeder kennt, bei welcher aber tausend weniger furchtsam sind, als ich es war, – von der Liebe. Nach dieser Zeit habe ich fast nichts mehr von ihren Stuͤrmen empfunden, obgleich nicht die mindeste Veraͤnderung in meiner Gesundheit vorgegangen war, ich auch gewiß nicht die Ursache davon, wie Cardan (in vita propria) in der Constellation der Planeten suchen konnte, – kurz, ich wurde auf einmahl gegen die Liebe kalt, und mich interessirte nichts weniger in der Welt als ein – Weib.
Nie ist mir bei aller Lebhaftigkeit meines Temperaments und bei einem nicht geringen Maße von Phantasie der Gedanke eingefallen, ein Maͤdchen ungluͤcklich zu machen, ob mir gleich dazu oft die Gelegenheiten nahe gelegt wurden. Jch gestehe, daß es bei mir nichtsweniger als ein hoher Grad des moralischen Gefuͤhls oder Religion war, welche mich davon abhielt; – diese Bewegungsgruͤnde haben selten stark auf mich in meiner Jugend gewuͤrkt; aber meine Furchtsamkeit, verbunden mit einem erstaunlich zaͤrtlichen Gefuͤhl des Mitleids gegen gefallene Maͤdchen, ist der Waͤchter meiner Tugend gewesen. Selbst die freiwilligen und verachtungswuͤrdigen Schlachtopfer unserer Sinnlichkeit sind fuͤr mich ein Gegenstand meines herzlichen Mitleids, – und ich denke noch mit Schrecken meiner Seele an ein solches Maͤdchen, welches in
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/87 |
Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/87>, abgerufen am 17.07.2024. |