Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.
Religion und Christenthum ist mir auf keine angenehme Art vorgetragen worden, ich mußte ein theologisches Compendium (voll Unsinn) auswendig lernen, mußte des Abends mit meiner Mutter und meinen Geschwistern lange Tischlieder singen, und nichts war daher natürlicher, als daß mir, wie den meisten jungen Leuten, die Religion bis in mein zwanzigstes Jahr ein völlig gleichgültiges Ding war. Hier sind einige Data, wie ich nach und nach darüber zu denken anfing, und welche Wendung meine Religionsbegriffe annahmen. Mein Vater war ein Mann von vielen theologischen und philologischen Kenntnissen; aber zugleich ein Feind aller Neuerungen in der Religion - nicht grade deswegen, weil er die Bemühungen der neuern Gottesgelehrten, die Religionswahrheiten durch Philosophie und Critik aufzuklären verachtete, sondern weil er glaubte, daß dadurch bei schwachen Leuten dem Unglauben ein neuer Weg eröfnet würde. Bis in mein achtzehntes Jahr glaubte ich alles, was mein Vater glaubte, und ich kann mich nicht erinnern, daß ich damahls gegen irgend einen Glaubensartikel einen Zweifel gehabt hätte, als gegen den von der Ewigkeit der Höllenstrafen, gegen welchen sich mein Gefühl der Menschlichkeit zu laut empörte.
Religion und Christenthum ist mir auf keine angenehme Art vorgetragen worden, ich mußte ein theologisches Compendium (voll Unsinn) auswendig lernen, mußte des Abends mit meiner Mutter und meinen Geschwistern lange Tischlieder singen, und nichts war daher natuͤrlicher, als daß mir, wie den meisten jungen Leuten, die Religion bis in mein zwanzigstes Jahr ein voͤllig gleichguͤltiges Ding war. Hier sind einige Data, wie ich nach und nach daruͤber zu denken anfing, und welche Wendung meine Religionsbegriffe annahmen. Mein Vater war ein Mann von vielen theologischen und philologischen Kenntnissen; aber zugleich ein Feind aller Neuerungen in der Religion – nicht grade deswegen, weil er die Bemuͤhungen der neuern Gottesgelehrten, die Religionswahrheiten durch Philosophie und Critik aufzuklaͤren verachtete, sondern weil er glaubte, daß dadurch bei schwachen Leuten dem Unglauben ein neuer Weg eroͤfnet wuͤrde. Bis in mein achtzehntes Jahr glaubte ich alles, was mein Vater glaubte, und ich kann mich nicht erinnern, daß ich damahls gegen irgend einen Glaubensartikel einen Zweifel gehabt haͤtte, als gegen den von der Ewigkeit der Hoͤllenstrafen, gegen welchen sich mein Gefuͤhl der Menschlichkeit zu laut empoͤrte. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0089" n="87"/><lb/> eigen ist. – Doch hievon noch viel Besonderes im Folgenden.</p> <p>Religion und Christenthum ist mir auf keine <hi rendition="#b">angenehme</hi> Art vorgetragen <choice><corr>worden,</corr><sic>werden,</sic></choice> ich mußte ein theologisches Compendium (voll Unsinn) auswendig lernen, mußte des Abends mit meiner Mutter und meinen Geschwistern lange Tischlieder singen, und nichts war daher natuͤrlicher, als daß mir, wie den meisten jungen Leuten, die Religion bis in mein zwanzigstes Jahr ein voͤllig <hi rendition="#b">gleichguͤltiges</hi> Ding war. Hier sind einige Data, wie ich nach und nach daruͤber zu denken anfing, und welche Wendung meine Religionsbegriffe annahmen.</p> <p>Mein Vater war ein Mann von vielen theologischen und philologischen Kenntnissen; aber zugleich ein Feind aller <hi rendition="#b">Neuerungen</hi> in der Religion – nicht grade deswegen, weil er die Bemuͤhungen der neuern Gottesgelehrten, die Religionswahrheiten durch Philosophie und Critik aufzuklaͤren verachtete, sondern weil er glaubte, daß dadurch bei schwachen Leuten dem Unglauben ein neuer Weg eroͤfnet wuͤrde. Bis in mein achtzehntes Jahr glaubte ich <hi rendition="#b">alles,</hi> was mein Vater glaubte, und ich kann mich nicht erinnern, daß ich damahls gegen irgend einen Glaubensartikel einen Zweifel gehabt haͤtte, als gegen den von der <hi rendition="#b">Ewigkeit</hi> der Hoͤllenstrafen, gegen welchen sich mein Gefuͤhl der Menschlichkeit zu laut empoͤrte.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [87/0089]
eigen ist. – Doch hievon noch viel Besonderes im Folgenden.
Religion und Christenthum ist mir auf keine angenehme Art vorgetragen worden, ich mußte ein theologisches Compendium (voll Unsinn) auswendig lernen, mußte des Abends mit meiner Mutter und meinen Geschwistern lange Tischlieder singen, und nichts war daher natuͤrlicher, als daß mir, wie den meisten jungen Leuten, die Religion bis in mein zwanzigstes Jahr ein voͤllig gleichguͤltiges Ding war. Hier sind einige Data, wie ich nach und nach daruͤber zu denken anfing, und welche Wendung meine Religionsbegriffe annahmen.
Mein Vater war ein Mann von vielen theologischen und philologischen Kenntnissen; aber zugleich ein Feind aller Neuerungen in der Religion – nicht grade deswegen, weil er die Bemuͤhungen der neuern Gottesgelehrten, die Religionswahrheiten durch Philosophie und Critik aufzuklaͤren verachtete, sondern weil er glaubte, daß dadurch bei schwachen Leuten dem Unglauben ein neuer Weg eroͤfnet wuͤrde. Bis in mein achtzehntes Jahr glaubte ich alles, was mein Vater glaubte, und ich kann mich nicht erinnern, daß ich damahls gegen irgend einen Glaubensartikel einen Zweifel gehabt haͤtte, als gegen den von der Ewigkeit der Hoͤllenstrafen, gegen welchen sich mein Gefuͤhl der Menschlichkeit zu laut empoͤrte.
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/89>, abgerufen am 16.02.2025. |