Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.Jch hatte noch nicht lange die Akademie bezogen, als ich eine kleine gelehrte Gesellschaft errichtete, worin über Gegenstände der Philosophie und Religion disputirt wurde. Mein Ehrgeitz spornte mich an, jedesmahl einen neuen, und wo möglich, ziemlich paradoxen Gegenstand zum Disputieren vorzuschlagen, worauf ich mich schon immer präparirt hatte; daher ich denn gemeiniglich den Sieg davon trug. Meine Disputirsucht nahm täglich zu, ich bemerkte bald in mir eine Neigung alles zu bestreiten. Das Aufsehn, das ich erregte, reitzte mich noch mehr dazu, und nun saß ich ganze Stunden lang, und sann auf allerlei sophistische Einwürfe gegen gewisse einzelne Lehren der Offenbahrung, ob ich gleich an einer Offenbahrung überhaupt nicht zweifelte, nicht weil ich die Sache für demonstrativ gewiß hielt, sondern weil der Einfluß eines solchen Unterrichts aufs Wohl der Menschheit mir ausgemacht schien. Meine Zweifelsucht wurde täglich größer, und ich fühlte ein gewisses angenehmes und ehrsüchtiges Vergnügen dabei, daß ich mich von einer Menge geglaubter Wahrheiten nicht überzeugen konnte, die meine Lehrer gar nicht bezweifelten. Aber lange konnte mein Geist in diesem ungewissen Zustande der Zweifelsucht nicht ausdauren, zumahl da ich kein demonstratives System des Scepticismus in der philosophischen Litteratur vorfand, an das ich mich hätte halten können. Jch Jch hatte noch nicht lange die Akademie bezogen, als ich eine kleine gelehrte Gesellschaft errichtete, worin uͤber Gegenstaͤnde der Philosophie und Religion disputirt wurde. Mein Ehrgeitz spornte mich an, jedesmahl einen neuen, und wo moͤglich, ziemlich paradoxen Gegenstand zum Disputieren vorzuschlagen, worauf ich mich schon immer praͤparirt hatte; daher ich denn gemeiniglich den Sieg davon trug. Meine Disputirsucht nahm taͤglich zu, ich bemerkte bald in mir eine Neigung alles zu bestreiten. Das Aufsehn, das ich erregte, reitzte mich noch mehr dazu, und nun saß ich ganze Stunden lang, und sann auf allerlei sophistische Einwuͤrfe gegen gewisse einzelne Lehren der Offenbahrung, ob ich gleich an einer Offenbahrung uͤberhaupt nicht zweifelte, nicht weil ich die Sache fuͤr demonstrativ gewiß hielt, sondern weil der Einfluß eines solchen Unterrichts aufs Wohl der Menschheit mir ausgemacht schien. Meine Zweifelsucht wurde taͤglich groͤßer, und ich fuͤhlte ein gewisses angenehmes und ehrsuͤchtiges Vergnuͤgen dabei, daß ich mich von einer Menge geglaubter Wahrheiten nicht uͤberzeugen konnte, die meine Lehrer gar nicht bezweifelten. Aber lange konnte mein Geist in diesem ungewissen Zustande der Zweifelsucht nicht ausdauren, zumahl da ich kein demonstratives System des Scepticismus in der philosophischen Litteratur vorfand, an das ich mich haͤtte halten koͤnnen. Jch <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0090" n="88"/><lb/> <p>Jch hatte noch nicht lange die Akademie bezogen, als ich eine kleine gelehrte Gesellschaft errichtete, worin uͤber Gegenstaͤnde der Philosophie und Religion disputirt wurde. Mein Ehrgeitz spornte mich an, jedesmahl einen neuen, und wo moͤglich, ziemlich <hi rendition="#b">paradoxen</hi> Gegenstand zum Disputieren vorzuschlagen, worauf ich mich schon immer praͤparirt hatte; daher ich denn gemeiniglich den Sieg davon trug. Meine <hi rendition="#b">Disputirsucht</hi> nahm taͤglich zu, ich bemerkte bald in mir eine Neigung <hi rendition="#b">alles zu bestreiten.</hi> Das Aufsehn, das ich erregte, reitzte mich noch mehr dazu, und nun saß ich ganze Stunden lang, und sann auf allerlei <hi rendition="#b">sophistische</hi> Einwuͤrfe gegen gewisse einzelne Lehren der Offenbahrung, ob ich gleich an einer Offenbahrung uͤberhaupt nicht zweifelte, nicht weil ich die Sache fuͤr demonstrativ gewiß hielt, sondern weil der Einfluß eines solchen Unterrichts aufs Wohl der Menschheit mir ausgemacht schien.</p> <p><hi rendition="#b">Meine Zweifelsucht</hi> wurde taͤglich groͤßer, und ich fuͤhlte ein gewisses angenehmes und ehrsuͤchtiges Vergnuͤgen dabei, daß ich mich von einer Menge geglaubter Wahrheiten nicht uͤberzeugen <hi rendition="#b">konnte,</hi> die meine Lehrer gar nicht <hi rendition="#b">bezweifelten.</hi></p> <p>Aber lange konnte mein Geist in diesem ungewissen Zustande der Zweifelsucht nicht ausdauren, zumahl da ich kein demonstratives System des <hi rendition="#b">Scepticismus</hi> in der philosophischen Litteratur vorfand, an das ich mich haͤtte halten koͤnnen. Jch<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [88/0090]
Jch hatte noch nicht lange die Akademie bezogen, als ich eine kleine gelehrte Gesellschaft errichtete, worin uͤber Gegenstaͤnde der Philosophie und Religion disputirt wurde. Mein Ehrgeitz spornte mich an, jedesmahl einen neuen, und wo moͤglich, ziemlich paradoxen Gegenstand zum Disputieren vorzuschlagen, worauf ich mich schon immer praͤparirt hatte; daher ich denn gemeiniglich den Sieg davon trug. Meine Disputirsucht nahm taͤglich zu, ich bemerkte bald in mir eine Neigung alles zu bestreiten. Das Aufsehn, das ich erregte, reitzte mich noch mehr dazu, und nun saß ich ganze Stunden lang, und sann auf allerlei sophistische Einwuͤrfe gegen gewisse einzelne Lehren der Offenbahrung, ob ich gleich an einer Offenbahrung uͤberhaupt nicht zweifelte, nicht weil ich die Sache fuͤr demonstrativ gewiß hielt, sondern weil der Einfluß eines solchen Unterrichts aufs Wohl der Menschheit mir ausgemacht schien.
Meine Zweifelsucht wurde taͤglich groͤßer, und ich fuͤhlte ein gewisses angenehmes und ehrsuͤchtiges Vergnuͤgen dabei, daß ich mich von einer Menge geglaubter Wahrheiten nicht uͤberzeugen konnte, die meine Lehrer gar nicht bezweifelten.
Aber lange konnte mein Geist in diesem ungewissen Zustande der Zweifelsucht nicht ausdauren, zumahl da ich kein demonstratives System des Scepticismus in der philosophischen Litteratur vorfand, an das ich mich haͤtte halten koͤnnen. Jch
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