Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.
Eben so gewiß kam es mir nun auch vor, daß ein vollkommner Zustand des Glücks für ein endliches Geschöpf etwas Unnatürliches und moralisch-Unmögliches sey, und daß wir nach unserm Tode vermöge der Natur unsres Geistes noch mancherlei Schmerzen und Leidensgefühlen, selbst zur Beförderung unsrer Fortschritte im Guten, unterworfen seyn würden. Gegen den Gedanken, daß wir einmahl unsere Freunde wiedersehen würden, fiel mir damahl nicht der geringste Zweifel ein, und mein Glaube daran wurde durch eine der liebenswürdigsten Weiber unterhalten, die ich je habe kennen lernen. Diese schätzbare Frau, welche ewig vor meinen Augen
Eben so gewiß kam es mir nun auch vor, daß ein vollkommner Zustand des Gluͤcks fuͤr ein endliches Geschoͤpf etwas Unnatuͤrliches und moralisch-Unmoͤgliches sey, und daß wir nach unserm Tode vermoͤge der Natur unsres Geistes noch mancherlei Schmerzen und Leidensgefuͤhlen, selbst zur Befoͤrderung unsrer Fortschritte im Guten, unterworfen seyn wuͤrden. Gegen den Gedanken, daß wir einmahl unsere Freunde wiedersehen wuͤrden, fiel mir damahl nicht der geringste Zweifel ein, und mein Glaube daran wurde durch eine der liebenswuͤrdigsten Weiber unterhalten, die ich je habe kennen lernen. Diese schaͤtzbare Frau, welche ewig vor meinen Augen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0094" n="92"/><lb/> und was Lavater mehr durch seine Einbildungskraft uͤber sie ausgedacht hat, die erhabensten Begriffe; ich hatte <persName ref="#ref0027"><note type="editorial">Lavater, Johann Caspar</note>Lavatern</persName> damahls so lieb, daß ich blos <hi rendition="#b">ihm zu Gefallen</hi> haͤtte ein Schwaͤrmer werden koͤnnen – aber <hi rendition="#b">Mendelssohns</hi> Phaͤdon riß mich auf einmahl aus diesem Gebiete der Einbildungskraft heraus; sein Beweis von der Unsterblichkeit der Seele, der mich zwar nicht <hi rendition="#b">ganz</hi> uͤberzeugte, brachte mich auf die Gedanken, daß wir nach unserm Tode wohl schwerlich gleich so <hi rendition="#b">vollkommen</hi> seyn duͤrften, als wie wir es uns gemeiniglich einbilden, und daß unser dortiges Gluͤck, unsere neuen Fortschritte, doch vornehmlich von unserer <hi rendition="#b">Selbstanstrengung,</hi> wie hier auf der Erde, abhaͤngen muͤßten.</p> <p>Eben so gewiß kam es mir nun auch vor, daß ein vollkommner Zustand des Gluͤcks fuͤr ein endliches Geschoͤpf etwas <hi rendition="#b">Unnatuͤrliches</hi> und <hi rendition="#b">moralisch-Unmoͤgliches</hi> sey, und daß wir <choice><corr>nach</corr><sic>noch</sic></choice> unserm Tode vermoͤge der Natur unsres Geistes noch mancherlei Schmerzen und Leidensgefuͤhlen, selbst zur Befoͤrderung unsrer Fortschritte im Guten, unterworfen seyn wuͤrden.</p> <p>Gegen den Gedanken, daß wir einmahl unsere Freunde wiedersehen wuͤrden, fiel mir damahl nicht der geringste Zweifel ein, und mein Glaube daran wurde durch eine der liebenswuͤrdigsten Weiber unterhalten, die ich je habe kennen lernen. Diese schaͤtzbare Frau, welche ewig vor meinen Augen<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [92/0094]
und was Lavater mehr durch seine Einbildungskraft uͤber sie ausgedacht hat, die erhabensten Begriffe; ich hatte Lavatern damahls so lieb, daß ich blos ihm zu Gefallen haͤtte ein Schwaͤrmer werden koͤnnen – aber Mendelssohns Phaͤdon riß mich auf einmahl aus diesem Gebiete der Einbildungskraft heraus; sein Beweis von der Unsterblichkeit der Seele, der mich zwar nicht ganz uͤberzeugte, brachte mich auf die Gedanken, daß wir nach unserm Tode wohl schwerlich gleich so vollkommen seyn duͤrften, als wie wir es uns gemeiniglich einbilden, und daß unser dortiges Gluͤck, unsere neuen Fortschritte, doch vornehmlich von unserer Selbstanstrengung, wie hier auf der Erde, abhaͤngen muͤßten.
Eben so gewiß kam es mir nun auch vor, daß ein vollkommner Zustand des Gluͤcks fuͤr ein endliches Geschoͤpf etwas Unnatuͤrliches und moralisch-Unmoͤgliches sey, und daß wir nach unserm Tode vermoͤge der Natur unsres Geistes noch mancherlei Schmerzen und Leidensgefuͤhlen, selbst zur Befoͤrderung unsrer Fortschritte im Guten, unterworfen seyn wuͤrden.
Gegen den Gedanken, daß wir einmahl unsere Freunde wiedersehen wuͤrden, fiel mir damahl nicht der geringste Zweifel ein, und mein Glaube daran wurde durch eine der liebenswuͤrdigsten Weiber unterhalten, die ich je habe kennen lernen. Diese schaͤtzbare Frau, welche ewig vor meinen Augen
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/94>, abgerufen am 17.07.2024. |