Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787.
"Unser eigenes Gefühl sagt es uns, daß wir nichtimmer denken; sondern, daß sich unsere Seele oft in dem Zustande einer gänzlichen Unthätigkeit befindet. Die Ohnmacht, der Schlaf, wenn wir nicht träumen, die müßige Gedankenlosigkeit des phlegmatischen Dummkopfs ist offenbar ein solcher Zustand des Nichtdenkens. Auch läßt sichs wohl nicht läugnen, daß die Seele des neugebornen Kindes, welche Aristoteles mit Recht eine tabula rasa nennt, anfangs ein völlig gedankenloses Wesen sey, welches sich seiner und anderer Dinge noch gar nicht bewußt ist und bewußt seyn kann".-- Mit diesen Gründen hat man den bekannten Satz des Cartesius: daß das Wesen unsrer Seele im Denken bestehe, zu widerlegen gesucht. Andere Philosophen, -- die die Wichtigkeit jener Gründe für zu wichtig hielten, als daß sie dem Cartesius Recht geben könnten, haben daher lieber das Wesen der Seele in eine Kraft, ein Vermögen zum Denken, oder Vorstellungen zu haben, gesetzt,
»Unser eigenes Gefuͤhl sagt es uns, daß wir nichtimmer denken; sondern, daß sich unsere Seele oft in dem Zustande einer gaͤnzlichen Unthaͤtigkeit befindet. Die Ohnmacht, der Schlaf, wenn wir nicht traͤumen, die muͤßige Gedankenlosigkeit des phlegmatischen Dummkopfs ist offenbar ein solcher Zustand des Nichtdenkens. Auch laͤßt sichs wohl nicht laͤugnen, daß die Seele des neugebornen Kindes, welche Aristoteles mit Recht eine tabula rasa nennt, anfangs ein voͤllig gedankenloses Wesen sey, welches sich seiner und anderer Dinge noch gar nicht bewußt ist und bewußt seyn kann«.— Mit diesen Gruͤnden hat man den bekannten Satz des Cartesius: daß das Wesen unsrer Seele im Denken bestehe, zu widerlegen gesucht. Andere Philosophen, — die die Wichtigkeit jener Gruͤnde fuͤr zu wichtig hielten, als daß sie dem Cartesius Recht geben koͤnnten, haben daher lieber das Wesen der Seele in eine Kraft, ein Vermoͤgen zum Denken, oder Vorstellungen zu haben, gesetzt, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0062" n="62"/><lb/> Seele, weil sie dabei sich am meisten der Kraft ihrer Selbstthaͤtigkeit bewußt ist; aber dies gilt nicht bei allen deutlichen Begriffen. Das <hi rendition="#b">innere Streben</hi> der Seele nach Licht, macht daß sie ihre Selbstthaͤtigkeit oft mehr fuͤhlt bei dunkeln Jdeen, als bei voͤllig deutlich gefaßten Begriffen. Wir moͤgen nicht immer eine abgeschnittene Graͤnze vor uns sehen. Daher die große Neigung zum Wunderbaren. — —</p> <p>»Unser eigenes Gefuͤhl sagt es uns, daß wir nicht<hi rendition="#b">immer</hi> denken; sondern, daß sich unsere Seele oft in dem Zustande einer gaͤnzlichen Unthaͤtigkeit befindet. Die Ohnmacht, der Schlaf, wenn wir nicht traͤumen, die muͤßige Gedankenlosigkeit des phlegmatischen Dummkopfs ist offenbar ein solcher Zustand des <hi rendition="#b">Nichtdenkens.</hi> Auch laͤßt sichs wohl nicht laͤugnen, daß die Seele des neugebornen Kindes, welche Aristoteles mit Recht eine <hi rendition="#aq">tabula <choice><corr>rasa</corr><sic>vasa</sic></choice></hi> nennt, anfangs ein voͤllig gedankenloses Wesen sey, welches sich seiner und anderer Dinge noch gar nicht bewußt <hi rendition="#b">ist</hi> und bewußt seyn <hi rendition="#b">kann</hi>«.— </p> <p>Mit diesen Gruͤnden hat man den bekannten Satz des Cartesius: daß das Wesen unsrer Seele im Denken bestehe, zu widerlegen gesucht. Andere Philosophen, — die die Wichtigkeit jener Gruͤnde fuͤr zu wichtig hielten, als daß sie dem Cartesius Recht geben koͤnnten, haben daher lieber das Wesen der Seele in eine <hi rendition="#b">Kraft,</hi> ein <hi rendition="#b">Vermoͤgen zum Denken,</hi> oder Vorstellungen zu haben, gesetzt,<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [62/0062]
Seele, weil sie dabei sich am meisten der Kraft ihrer Selbstthaͤtigkeit bewußt ist; aber dies gilt nicht bei allen deutlichen Begriffen. Das innere Streben der Seele nach Licht, macht daß sie ihre Selbstthaͤtigkeit oft mehr fuͤhlt bei dunkeln Jdeen, als bei voͤllig deutlich gefaßten Begriffen. Wir moͤgen nicht immer eine abgeschnittene Graͤnze vor uns sehen. Daher die große Neigung zum Wunderbaren. — —
»Unser eigenes Gefuͤhl sagt es uns, daß wir nichtimmer denken; sondern, daß sich unsere Seele oft in dem Zustande einer gaͤnzlichen Unthaͤtigkeit befindet. Die Ohnmacht, der Schlaf, wenn wir nicht traͤumen, die muͤßige Gedankenlosigkeit des phlegmatischen Dummkopfs ist offenbar ein solcher Zustand des Nichtdenkens. Auch laͤßt sichs wohl nicht laͤugnen, daß die Seele des neugebornen Kindes, welche Aristoteles mit Recht eine tabula rasa nennt, anfangs ein voͤllig gedankenloses Wesen sey, welches sich seiner und anderer Dinge noch gar nicht bewußt ist und bewußt seyn kann«.—
Mit diesen Gruͤnden hat man den bekannten Satz des Cartesius: daß das Wesen unsrer Seele im Denken bestehe, zu widerlegen gesucht. Andere Philosophen, — die die Wichtigkeit jener Gruͤnde fuͤr zu wichtig hielten, als daß sie dem Cartesius Recht geben koͤnnten, haben daher lieber das Wesen der Seele in eine Kraft, ein Vermoͤgen zum Denken, oder Vorstellungen zu haben, gesetzt,
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