Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 3. Berlin, 1789.Hätte uns die Natur so geschaffen, daß wir sie selbst anschauen und durchschauen, und unter ihrer besten Führung unser Leben vollenden könnten, so bedürfte es weiter keiner Grundsätze, keiner Lebensregeln. Nun aber hat sie bloß einige kleine Fünkchen in uns gelegt, die wir bald, durch böse Sitten und Meinungen verschlimmert, dergestalt auslöschen und dämpfen, daß nie das Licht, welches uns die Natur gab, wieder hervorbrechen kann. Die Keime aller Tugenden schlummern in unsern Seelen, dürften sie ungehindert emporschiessen, so würde selbst die Natur uns zur Glückseligkeit leiten. Jtzt aber sind wir kaum geboren, so sind wir sogleich von aller Verderbtheit, und von der äußersten Verkehrtheit der Meinungen umgeben; so daß wir gleichsam schon mit der Ammenmilch den Jrrthum einsaugen. Sind wir denn, von der Brust der Amme entwöhnt, unsern Aeltern wieder überliefert, so dauert es nicht lange, bis wir unter die Zucht unserer Lehrmeister gegeben werden, wo wir denn wieder mit einer solchen Menge von Jrrthümern überschüttet werden, daß die Wahrheit dem Wahne, und dem eingewurzelten Vorurtheile die Natur selber weicht. Laßt uns also untersuchen, welcher wichtigen Heilmittel denn die Philosophie gegen die Krankheiten der Seele sich bedient -- denn es giebt ge- Haͤtte uns die Natur so geschaffen, daß wir sie selbst anschauen und durchschauen, und unter ihrer besten Fuͤhrung unser Leben vollenden koͤnnten, so beduͤrfte es weiter keiner Grundsaͤtze, keiner Lebensregeln. Nun aber hat sie bloß einige kleine Fuͤnkchen in uns gelegt, die wir bald, durch boͤse Sitten und Meinungen verschlimmert, dergestalt ausloͤschen und daͤmpfen, daß nie das Licht, welches uns die Natur gab, wieder hervorbrechen kann. Die Keime aller Tugenden schlummern in unsern Seelen, duͤrften sie ungehindert emporschiessen, so wuͤrde selbst die Natur uns zur Gluͤckseligkeit leiten. Jtzt aber sind wir kaum geboren, so sind wir sogleich von aller Verderbtheit, und von der aͤußersten Verkehrtheit der Meinungen umgeben; so daß wir gleichsam schon mit der Ammenmilch den Jrrthum einsaugen. Sind wir denn, von der Brust der Amme entwoͤhnt, unsern Aeltern wieder uͤberliefert, so dauert es nicht lange, bis wir unter die Zucht unserer Lehrmeister gegeben werden, wo wir denn wieder mit einer solchen Menge von Jrrthuͤmern uͤberschuͤttet werden, daß die Wahrheit dem Wahne, und dem eingewurzelten Vorurtheile die Natur selber weicht. Laßt uns also untersuchen, welcher wichtigen Heilmittel denn die Philosophie gegen die Krankheiten der Seele sich bedient — denn es giebt ge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0121" n="121"/><lb/> <p>Haͤtte uns die Natur so geschaffen, daß wir sie selbst anschauen und durchschauen, und unter ihrer besten Fuͤhrung unser Leben vollenden koͤnnten, so beduͤrfte es weiter keiner Grundsaͤtze, keiner Lebensregeln. Nun aber hat sie bloß einige kleine Fuͤnkchen in uns gelegt, die wir bald, durch boͤse Sitten und Meinungen verschlimmert, dergestalt ausloͤschen und daͤmpfen, daß nie das Licht, welches uns die Natur gab, wieder hervorbrechen kann.</p> <p>Die Keime aller Tugenden schlummern in unsern Seelen, duͤrften sie ungehindert emporschiessen, so wuͤrde selbst die Natur uns zur Gluͤckseligkeit leiten. Jtzt aber sind wir kaum geboren, so sind wir sogleich von aller Verderbtheit, und von der aͤußersten Verkehrtheit der Meinungen umgeben; so daß wir gleichsam schon mit der Ammenmilch den Jrrthum einsaugen. Sind wir denn, von der Brust der Amme entwoͤhnt, unsern Aeltern wieder uͤberliefert, so dauert es nicht lange, bis wir unter die Zucht unserer Lehrmeister gegeben werden, wo wir denn wieder mit einer solchen Menge von Jrrthuͤmern uͤberschuͤttet werden, daß die Wahrheit dem Wahne, und dem eingewurzelten Vorurtheile die Natur selber weicht.</p> <p>Laßt uns also untersuchen, welcher wichtigen Heilmittel denn die Philosophie gegen die Krankheiten der Seele sich bedient — denn es giebt ge-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [121/0121]
Haͤtte uns die Natur so geschaffen, daß wir sie selbst anschauen und durchschauen, und unter ihrer besten Fuͤhrung unser Leben vollenden koͤnnten, so beduͤrfte es weiter keiner Grundsaͤtze, keiner Lebensregeln. Nun aber hat sie bloß einige kleine Fuͤnkchen in uns gelegt, die wir bald, durch boͤse Sitten und Meinungen verschlimmert, dergestalt ausloͤschen und daͤmpfen, daß nie das Licht, welches uns die Natur gab, wieder hervorbrechen kann.
Die Keime aller Tugenden schlummern in unsern Seelen, duͤrften sie ungehindert emporschiessen, so wuͤrde selbst die Natur uns zur Gluͤckseligkeit leiten. Jtzt aber sind wir kaum geboren, so sind wir sogleich von aller Verderbtheit, und von der aͤußersten Verkehrtheit der Meinungen umgeben; so daß wir gleichsam schon mit der Ammenmilch den Jrrthum einsaugen. Sind wir denn, von der Brust der Amme entwoͤhnt, unsern Aeltern wieder uͤberliefert, so dauert es nicht lange, bis wir unter die Zucht unserer Lehrmeister gegeben werden, wo wir denn wieder mit einer solchen Menge von Jrrthuͤmern uͤberschuͤttet werden, daß die Wahrheit dem Wahne, und dem eingewurzelten Vorurtheile die Natur selber weicht.
Laßt uns also untersuchen, welcher wichtigen Heilmittel denn die Philosophie gegen die Krankheiten der Seele sich bedient — denn es giebt ge-
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