Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 3. Berlin, 1791.Dergleichen Ergiessungen finden sich häufig in diesem kleinen Buche, und dienen zum Beweise, bei welchem Grade von Frömmigkeit der Mensch dennoch gegen sich selber ein Heuchler seyn, und bei welchem Grade von Aufrichtigkeit er dennoch sich gegen sich selber verstellen könne. Denn wer dergleichen Empfindungen in seinen Worten und Gebehrden lügt, um andre Menschen damit zu täuschen, bei dem läßt sich dies Verfahren leicht erklären; wer aber diese Empfindungen in sich selbst erkünstelt, um sie für sich zu haben, wenn auch niemand ausser ihm sie bemerkte, bei dem sollte man kaum noch Verstellung ahnden, wenn dieselbe nicht noch einen Schlupfwinkel hätte, nehmlich den, daß der Mensch auch vor sich selber eine Rolle zu spielen, im Stande ist. Ein jeder sucht nehmlich, mehr oder weniger in irgend einer Stellung oder Mine, die ihm an andern wohlgefällt, auch sich selber wohl zu gefallen, und trägt das Fremde mehr oder weniger in sich über. Und so wie nun die Neigungen verschieden sind, so findet der eine z.B. ein vorzügliches Wohlgefallen an dem äussern Ausdruck einer tiefen Andacht; der andre an dem äussern Ausdruck einer vorzüglichen innern Stärke und Seelengröße; und wieder ein andrer an dem Ausdruck eines sanften und ruhigen Charakters, dem eine vorzügliche Liebenswürdigkeit eigen ist. Dergleichen Ergiessungen finden sich haͤufig in diesem kleinen Buche, und dienen zum Beweise, bei welchem Grade von Froͤmmigkeit der Mensch dennoch gegen sich selber ein Heuchler seyn, und bei welchem Grade von Aufrichtigkeit er dennoch sich gegen sich selber verstellen koͤnne. Denn wer dergleichen Empfindungen in seinen Worten und Gebehrden luͤgt, um andre Menschen damit zu taͤuschen, bei dem laͤßt sich dies Verfahren leicht erklaͤren; wer aber diese Empfindungen in sich selbst erkuͤnstelt, um sie fuͤr sich zu haben, wenn auch niemand ausser ihm sie bemerkte, bei dem sollte man kaum noch Verstellung ahnden, wenn dieselbe nicht noch einen Schlupfwinkel haͤtte, nehmlich den, daß der Mensch auch vor sich selber eine Rolle zu spielen, im Stande ist. Ein jeder sucht nehmlich, mehr oder weniger in irgend einer Stellung oder Mine, die ihm an andern wohlgefaͤllt, auch sich selber wohl zu gefallen, und traͤgt das Fremde mehr oder weniger in sich uͤber. Und so wie nun die Neigungen verschieden sind, so findet der eine z.B. ein vorzuͤgliches Wohlgefallen an dem aͤussern Ausdruck einer tiefen Andacht; der andre an dem aͤussern Ausdruck einer vorzuͤglichen innern Staͤrke und Seelengroͤße; und wieder ein andrer an dem Ausdruck eines sanften und ruhigen Charakters, dem eine vorzuͤgliche Liebenswuͤrdigkeit eigen ist. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0033" n="33"/><lb/> <p>Dergleichen Ergiessungen finden sich haͤufig in diesem kleinen Buche, und dienen zum Beweise, bei welchem Grade von <hi rendition="#b">Froͤmmigkeit</hi> der Mensch dennoch gegen sich selber ein Heuchler seyn, und bei welchem Grade von Aufrichtigkeit er dennoch sich gegen sich selber verstellen koͤnne. </p> <p>Denn wer dergleichen Empfindungen in seinen Worten und Gebehrden luͤgt, um andre Menschen damit zu taͤuschen, bei dem laͤßt sich dies Verfahren leicht erklaͤren; wer aber diese Empfindungen in sich selbst erkuͤnstelt, um sie fuͤr sich zu haben, wenn auch niemand ausser ihm sie bemerkte, bei dem sollte man kaum noch Verstellung ahnden, wenn dieselbe nicht noch einen Schlupfwinkel haͤtte, nehmlich den, daß der Mensch <hi rendition="#b">auch vor sich selber</hi> eine Rolle zu spielen, im Stande ist. </p> <p>Ein jeder sucht nehmlich, mehr oder weniger in irgend einer Stellung oder Mine, die ihm an <hi rendition="#b">andern</hi> wohlgefaͤllt, auch sich selber wohl zu gefallen, und traͤgt das Fremde mehr oder weniger in sich uͤber. </p> <p>Und so wie nun die Neigungen verschieden sind, so findet der eine z.B. ein vorzuͤgliches Wohlgefallen an dem aͤussern Ausdruck einer tiefen Andacht; der andre an dem aͤussern Ausdruck einer vorzuͤglichen innern Staͤrke und Seelengroͤße; und wieder ein andrer an dem Ausdruck eines sanften und ruhigen Charakters, dem eine vorzuͤgliche Liebenswuͤrdigkeit eigen ist. </p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [33/0033]
Dergleichen Ergiessungen finden sich haͤufig in diesem kleinen Buche, und dienen zum Beweise, bei welchem Grade von Froͤmmigkeit der Mensch dennoch gegen sich selber ein Heuchler seyn, und bei welchem Grade von Aufrichtigkeit er dennoch sich gegen sich selber verstellen koͤnne.
Denn wer dergleichen Empfindungen in seinen Worten und Gebehrden luͤgt, um andre Menschen damit zu taͤuschen, bei dem laͤßt sich dies Verfahren leicht erklaͤren; wer aber diese Empfindungen in sich selbst erkuͤnstelt, um sie fuͤr sich zu haben, wenn auch niemand ausser ihm sie bemerkte, bei dem sollte man kaum noch Verstellung ahnden, wenn dieselbe nicht noch einen Schlupfwinkel haͤtte, nehmlich den, daß der Mensch auch vor sich selber eine Rolle zu spielen, im Stande ist.
Ein jeder sucht nehmlich, mehr oder weniger in irgend einer Stellung oder Mine, die ihm an andern wohlgefaͤllt, auch sich selber wohl zu gefallen, und traͤgt das Fremde mehr oder weniger in sich uͤber.
Und so wie nun die Neigungen verschieden sind, so findet der eine z.B. ein vorzuͤgliches Wohlgefallen an dem aͤussern Ausdruck einer tiefen Andacht; der andre an dem aͤussern Ausdruck einer vorzuͤglichen innern Staͤrke und Seelengroͤße; und wieder ein andrer an dem Ausdruck eines sanften und ruhigen Charakters, dem eine vorzuͤgliche Liebenswuͤrdigkeit eigen ist.
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