Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 3. Berlin, 1791.Weil nun aber dies Wohlgefallen mehr an dem äussern Ausdruck, als an der innern Grundlage, mehr an dem Schein als an der Wirklichkeit haftet; so muß auch die Uebertragung des Fremden nothwendig steif und erkünstelt werden, weil man dieselbigen Erscheinungen ohne dieselbe Unterlage hervorbringen will. Denn wenn man die Wirklichkeit dem Scheine vorzöge, so würde man kein Bedürfniß haben, das Fremde in sich zu übertragen, sondern man würde in sich selbst zurücksinken, um aus seiner eigenen Grundanlage, dasjenige herauszuarbeiten, was darin enthalten ist, sey es so viel oder so wenig es wolle. Wen nun aber seine Neigung einmal zu dem Scheinbaren hinzieht, dem ist der Vorzug der Realität freilich nicht so leicht begreiflich zu machen. -- Denn wenn die Realität mehr inneres Gewicht hat, so hat das Scheinbare wieder eine größere Ausbreitung. Und der Mensch ist in diesem Falle größtentheils so beschaffen, daß wenn sich ihm die Gelegenheit dazu darbietet, er lieber etwas Ausgebreitetes blos scheinen, als etwas in sich Zurückgezogenes und Unbemerktes wirklich seyn will. Was Wunder denn, daß auch selbst religiöse und tugendhafte Empfindungen, in einem übertriebenen und überspannten Grade, lieber von den Menschen erkünstelt werden, als daß sie sich mit Weil nun aber dies Wohlgefallen mehr an dem aͤussern Ausdruck, als an der innern Grundlage, mehr an dem Schein als an der Wirklichkeit haftet; so muß auch die Uebertragung des Fremden nothwendig steif und erkuͤnstelt werden, weil man dieselbigen Erscheinungen ohne dieselbe Unterlage hervorbringen will. Denn wenn man die Wirklichkeit dem Scheine vorzoͤge, so wuͤrde man kein Beduͤrfniß haben, das Fremde in sich zu uͤbertragen, sondern man wuͤrde in sich selbst zuruͤcksinken, um aus seiner eigenen Grundanlage, dasjenige herauszuarbeiten, was darin enthalten ist, sey es so viel oder so wenig es wolle. Wen nun aber seine Neigung einmal zu dem Scheinbaren hinzieht, dem ist der Vorzug der Realitaͤt freilich nicht so leicht begreiflich zu machen. — Denn wenn die Realitaͤt mehr inneres Gewicht hat, so hat das Scheinbare wieder eine groͤßere Ausbreitung. Und der Mensch ist in diesem Falle groͤßtentheils so beschaffen, daß wenn sich ihm die Gelegenheit dazu darbietet, er lieber etwas Ausgebreitetes blos scheinen, als etwas in sich Zuruͤckgezogenes und Unbemerktes wirklich seyn will. Was Wunder denn, daß auch selbst religioͤse und tugendhafte Empfindungen, in einem uͤbertriebenen und uͤberspannten Grade, lieber von den Menschen erkuͤnstelt werden, als daß sie sich mit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0034" n="34"/><lb/> <p>Weil nun aber dies Wohlgefallen mehr an dem aͤussern Ausdruck, als an der innern Grundlage, mehr an dem Schein als an der Wirklichkeit haftet; so muß auch die Uebertragung des Fremden nothwendig steif und erkuͤnstelt werden, weil man dieselbigen Erscheinungen ohne dieselbe Unterlage hervorbringen will. </p> <p>Denn wenn man die Wirklichkeit dem Scheine vorzoͤge, so wuͤrde man kein Beduͤrfniß haben, das Fremde in sich zu uͤbertragen, sondern man wuͤrde in sich selbst zuruͤcksinken, um aus seiner eigenen Grundanlage, dasjenige herauszuarbeiten, was darin enthalten ist, sey es so viel oder so wenig es wolle. </p> <p>Wen nun aber seine Neigung einmal zu dem <hi rendition="#b">Scheinbaren</hi> hinzieht, dem ist der Vorzug der <hi rendition="#b">Realitaͤt</hi> freilich nicht so leicht begreiflich zu machen. — Denn wenn die Realitaͤt mehr inneres Gewicht hat, so hat das Scheinbare wieder eine groͤßere Ausbreitung. </p> <p>Und der Mensch ist in diesem Falle groͤßtentheils so beschaffen, daß wenn sich ihm die Gelegenheit dazu darbietet, er lieber etwas Ausgebreitetes blos scheinen, als etwas in sich Zuruͤckgezogenes und Unbemerktes wirklich seyn will. </p> <p>Was Wunder denn, daß auch selbst religioͤse und tugendhafte Empfindungen, in einem uͤbertriebenen und uͤberspannten Grade, lieber von den Menschen erkuͤnstelt werden, als daß sie sich mit<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [34/0034]
Weil nun aber dies Wohlgefallen mehr an dem aͤussern Ausdruck, als an der innern Grundlage, mehr an dem Schein als an der Wirklichkeit haftet; so muß auch die Uebertragung des Fremden nothwendig steif und erkuͤnstelt werden, weil man dieselbigen Erscheinungen ohne dieselbe Unterlage hervorbringen will.
Denn wenn man die Wirklichkeit dem Scheine vorzoͤge, so wuͤrde man kein Beduͤrfniß haben, das Fremde in sich zu uͤbertragen, sondern man wuͤrde in sich selbst zuruͤcksinken, um aus seiner eigenen Grundanlage, dasjenige herauszuarbeiten, was darin enthalten ist, sey es so viel oder so wenig es wolle.
Wen nun aber seine Neigung einmal zu dem Scheinbaren hinzieht, dem ist der Vorzug der Realitaͤt freilich nicht so leicht begreiflich zu machen. — Denn wenn die Realitaͤt mehr inneres Gewicht hat, so hat das Scheinbare wieder eine groͤßere Ausbreitung.
Und der Mensch ist in diesem Falle groͤßtentheils so beschaffen, daß wenn sich ihm die Gelegenheit dazu darbietet, er lieber etwas Ausgebreitetes blos scheinen, als etwas in sich Zuruͤckgezogenes und Unbemerktes wirklich seyn will.
Was Wunder denn, daß auch selbst religioͤse und tugendhafte Empfindungen, in einem uͤbertriebenen und uͤberspannten Grade, lieber von den Menschen erkuͤnstelt werden, als daß sie sich mit
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien
(2015-06-09T11:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat
(2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2015-06-09T11:00:00Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |