Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 2. Berlin, 1792.
"Wenn ich meine Familie ernähren soll, muß ich stets die jetzige Lebensart führen; aber ich kann sie nicht führen, ohne unglücklich zu seyn. Es kämpfen Pflichten gegen Pflichten in mir. Meine Frau, meine Kinder fordern meinen Beistand, aber der Staat meine Treue. Jch kann nicht beiden zugleich Genüge leisten, und werde dem unterliegen." "Uebrigens weiß ich auch nicht wozu ich lebe. Jch kenne meine Bestimmung hienieden nicht; und so viel ich aus der Analogie schließen kann, ist die Bestimmung des Menschen die der Thiere und Pflanzen. Sie werden geboren, wachsen und sterben. Sterben, ohne Bewußtsein von ihren Thaten hienieden zu behalten. Wozu die Quaal, wozu der Harm in diesem Leben?" "Hätt' ich nicht Frau, nicht Kinder, wäre das Schicksal dieser nicht mir anvertraut, läge mir nicht ob, die Pflichten des Gatten und des Vaters zu erfüllen; ich für mich würde die beiden Enden meines Lebens schon längst näher an einander gebracht
»Wenn ich meine Familie ernaͤhren soll, muß ich stets die jetzige Lebensart fuͤhren; aber ich kann sie nicht fuͤhren, ohne ungluͤcklich zu seyn. Es kaͤmpfen Pflichten gegen Pflichten in mir. Meine Frau, meine Kinder fordern meinen Beistand, aber der Staat meine Treue. Jch kann nicht beiden zugleich Genuͤge leisten, und werde dem unterliegen.« »Uebrigens weiß ich auch nicht wozu ich lebe. Jch kenne meine Bestimmung hienieden nicht; und so viel ich aus der Analogie schließen kann, ist die Bestimmung des Menschen die der Thiere und Pflanzen. Sie werden geboren, wachsen und sterben. Sterben, ohne Bewußtsein von ihren Thaten hienieden zu behalten. Wozu die Quaal, wozu der Harm in diesem Leben?« »Haͤtt' ich nicht Frau, nicht Kinder, waͤre das Schicksal dieser nicht mir anvertraut, laͤge mir nicht ob, die Pflichten des Gatten und des Vaters zu erfuͤllen; ich fuͤr mich wuͤrde die beiden Enden meines Lebens schon laͤngst naͤher an einander gebracht <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0005" n="5"/><lb/> selbst. Der Strafe, die der Entdeckung folgt, kann ich leicht entgehn, aber nicht dem Bewußtsein sie zu verdienen. Und als ich fragte, wodurch er glaubte der Strafe entgehn zu koͤnnen, sagte er: es giebt einen Zustand, wo alle Vertraͤge aufhoͤren, und dieser Zustand ist — der Tod. Jch werde ihn ergreifen, sobald ich vor Gericht erscheinen muß, und wuͤnsche ihn sobald als moͤglich ergreifen zu muͤssen.«</p> <p>»Wenn ich meine Familie ernaͤhren soll, muß ich stets die jetzige Lebensart fuͤhren; aber ich kann sie nicht fuͤhren, ohne ungluͤcklich zu seyn. Es kaͤmpfen Pflichten gegen Pflichten in mir. Meine Frau, meine Kinder fordern meinen Beistand, aber der Staat meine Treue. Jch kann nicht beiden zugleich Genuͤge leisten, und werde dem unterliegen.«</p> <p>»Uebrigens weiß ich auch nicht <hi rendition="#b">wozu</hi> ich lebe. Jch kenne meine Bestimmung hienieden nicht; und so viel ich aus der Analogie schließen kann, ist die Bestimmung des Menschen die der Thiere und Pflanzen. Sie werden geboren, wachsen und sterben. Sterben, ohne Bewußtsein von ihren Thaten hienieden zu behalten. Wozu die Quaal, wozu der Harm in diesem Leben?«</p> <p>»Haͤtt' ich nicht Frau, nicht Kinder, waͤre das Schicksal dieser nicht mir anvertraut, laͤge mir nicht ob, die Pflichten des Gatten und des Vaters zu erfuͤllen; ich fuͤr mich wuͤrde die beiden Enden meines Lebens schon laͤngst naͤher an einander gebracht<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [5/0005]
selbst. Der Strafe, die der Entdeckung folgt, kann ich leicht entgehn, aber nicht dem Bewußtsein sie zu verdienen. Und als ich fragte, wodurch er glaubte der Strafe entgehn zu koͤnnen, sagte er: es giebt einen Zustand, wo alle Vertraͤge aufhoͤren, und dieser Zustand ist — der Tod. Jch werde ihn ergreifen, sobald ich vor Gericht erscheinen muß, und wuͤnsche ihn sobald als moͤglich ergreifen zu muͤssen.«
»Wenn ich meine Familie ernaͤhren soll, muß ich stets die jetzige Lebensart fuͤhren; aber ich kann sie nicht fuͤhren, ohne ungluͤcklich zu seyn. Es kaͤmpfen Pflichten gegen Pflichten in mir. Meine Frau, meine Kinder fordern meinen Beistand, aber der Staat meine Treue. Jch kann nicht beiden zugleich Genuͤge leisten, und werde dem unterliegen.«
»Uebrigens weiß ich auch nicht wozu ich lebe. Jch kenne meine Bestimmung hienieden nicht; und so viel ich aus der Analogie schließen kann, ist die Bestimmung des Menschen die der Thiere und Pflanzen. Sie werden geboren, wachsen und sterben. Sterben, ohne Bewußtsein von ihren Thaten hienieden zu behalten. Wozu die Quaal, wozu der Harm in diesem Leben?«
»Haͤtt' ich nicht Frau, nicht Kinder, waͤre das Schicksal dieser nicht mir anvertraut, laͤge mir nicht ob, die Pflichten des Gatten und des Vaters zu erfuͤllen; ich fuͤr mich wuͤrde die beiden Enden meines Lebens schon laͤngst naͤher an einander gebracht
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(2015-06-09T11:00:00Z)
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