Dione über die verwegene Kühnheit der Sterbli- chen sich beklagte; so spottete Minerva ihrer mit den Worten: gewiß hat Venus irgend eine schöne geschmückte Griechin überreden wollen, daß sie ih- ren geliebten Trojanern folgen möchte, und beim Liebkosen hat sie sich in die goldene Schnalle die zarte Hand geritzt.
Da lächelte der Vater der Götter und Men- schen, rief die Venus zu sich, und sprach zu ihr mit sanften Worten: Die kriegerischen Geschäfte, mein Kind, sind nicht dein Werk; die Freuden der Hochzeit zu bereiten, ist dein süß Geschäft; laß du nur für das wilde Kriegsgetümmel Mars und Minerva sorgen!
So scherzte in diesen Dichtungen der Alten die Phantasie in kühnen Bildern, mit der Gott- heit, die sie sich in den kleinsten Zügen nach dem Bilde der Menschen schuf, und dennoch die größ- ten und erhabensten Erscheinungen der alles um- fassenden Natur beständig zu ihrem hohen Urbilde nahm.
Die Horen empfangen die Venus, wenn sie, nach der alten Dichtung, dem Meer ent- steigt; sie ziehen ihr göttliche Kleider an, setzen ihr aufs unsterbliche Haupt die goldene Krone; schmücken ihr mit goldenem Geschmeide Hals und Arme; und hängen blitzende Ohrgehänge in ihre durchlöcherten Ohren; -- so mahlt sich
Dione uͤber die verwegene Kuͤhnheit der Sterbli- chen ſich beklagte; ſo ſpottete Minerva ihrer mit den Worten: gewiß hat Venus irgend eine ſchoͤne geſchmuͤckte Griechin uͤberreden wollen, daß ſie ih- ren geliebten Trojanern folgen moͤchte, und beim Liebkoſen hat ſie ſich in die goldene Schnalle die zarte Hand geritzt.
Da laͤchelte der Vater der Goͤtter und Men- ſchen, rief die Venus zu ſich, und ſprach zu ihr mit ſanften Worten: Die kriegeriſchen Geſchaͤfte, mein Kind, ſind nicht dein Werk; die Freuden der Hochzeit zu bereiten, iſt dein ſuͤß Geſchaͤft; laß du nur fuͤr das wilde Kriegsgetuͤmmel Mars und Minerva ſorgen!
So ſcherzte in dieſen Dichtungen der Alten die Phantaſie in kuͤhnen Bildern, mit der Gott- heit, die ſie ſich in den kleinſten Zuͤgen nach dem Bilde der Menſchen ſchuf, und dennoch die groͤß- ten und erhabenſten Erſcheinungen der alles um- faſſenden Natur beſtaͤndig zu ihrem hohen Urbilde nahm.
Die Horen empfangen die Venus, wenn ſie, nach der alten Dichtung, dem Meer ent- ſteigt; ſie ziehen ihr goͤttliche Kleider an, ſetzen ihr aufs unſterbliche Haupt die goldene Krone; ſchmuͤcken ihr mit goldenem Geſchmeide Hals und Arme; und haͤngen blitzende Ohrgehaͤnge in ihre durchloͤcherten Ohren; — ſo mahlt ſich
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Dione uͤber die verwegene Kuͤhnheit der Sterbli-
chen ſich beklagte; ſo ſpottete Minerva ihrer mit
den Worten: gewiß hat Venus irgend eine ſchoͤne
geſchmuͤckte Griechin uͤberreden wollen, daß ſie ih-
ren geliebten Trojanern folgen moͤchte, und beim
Liebkoſen hat ſie ſich in die goldene Schnalle die
zarte Hand geritzt.
Da laͤchelte der Vater der Goͤtter und Men-
ſchen, rief die Venus zu ſich, und ſprach zu ihr
mit ſanften Worten: Die kriegeriſchen Geſchaͤfte,
mein Kind, ſind nicht dein Werk; die Freuden
der Hochzeit zu bereiten, iſt dein ſuͤß Geſchaͤft;
laß du nur fuͤr das wilde Kriegsgetuͤmmel Mars
und Minerva ſorgen!
So ſcherzte in dieſen Dichtungen der Alten
die Phantaſie in kuͤhnen Bildern, mit der Gott-
heit, die ſie ſich in den kleinſten Zuͤgen nach dem
Bilde der Menſchen ſchuf, und dennoch die groͤß-
ten und erhabenſten Erſcheinungen der alles um-
faſſenden Natur beſtaͤndig zu ihrem hohen Urbilde
nahm.
Die Horen empfangen die Venus, wenn
ſie, nach der alten Dichtung, dem Meer ent-
ſteigt; ſie ziehen ihr goͤttliche Kleider an, ſetzen
ihr aufs unſterbliche Haupt die goldene Krone;
ſchmuͤcken ihr mit goldenem Geſchmeide Hals und
Arme; und haͤngen blitzende Ohrgehaͤnge in
ihre durchloͤcherten Ohren; — ſo mahlt ſich
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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/172>, abgerufen am 25.11.2024.
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