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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791.

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danken und die Klugheit zu ersetzen, was ihrer
Wirksamkeit an Macht abgeht. --

Auch lieh die Phantasie der Alten gern dem
Worte Flügel, weil es vom schnellen Hauch be-
gleitet erst hörbar wird; und wenn der Laut nicht
über die Lippen kam, so war ihr schöner Aus-
druck: dem Worte fehlten die Flügel.

Die Zunge der Opferthiere war dem Merkur
geweiht; Milch und Honig brachte man dem Gott
der sanft hinströmenden Unterredung dar. -- Aus
seinem Munde senkte sich, nach einer dichterischen
Darstellung, vom Himmel eine goldne Kette nie-
der, bis zu dem lauschenden Ohre der Sterblichen,
die der süße Wohllaut von seinen Lippen mit
mächtigem Zauber lenkte. --

Unwiderstehlich ist seine Macht, den Zwist zu
schlichten, das Streitende zu versöhnen, und das
Mißtönende harmonisch zu verbinden. -- Dem
Schooß der Mutter noch nicht lange entwunden,
schlug er mit seinem goldnen Stabe zwischen zwei
erzürnte miteinander streitende Schlangen, --
und diese vergaßen plötzlich ihrer Wuth, und wik-
kelten sich vereint, in sanften Krümmungen um
den Stab, bis an die Spitze, wo ihre Häupter
in ewiger Eintracht sich begegnen.

Es giebt kein schöneres Sinnbild, um die
Versöhnung und den Frieden, so wie die harmo-
nische Verbindung des Widerstreitenden und Ent-

danken und die Klugheit zu erſetzen, was ihrer
Wirkſamkeit an Macht abgeht. —

Auch lieh die Phantaſie der Alten gern dem
Worte Fluͤgel, weil es vom ſchnellen Hauch be-
gleitet erſt hoͤrbar wird; und wenn der Laut nicht
uͤber die Lippen kam, ſo war ihr ſchoͤner Aus-
druck: dem Worte fehlten die Fluͤgel.

Die Zunge der Opferthiere war dem Merkur
geweiht; Milch und Honig brachte man dem Gott
der ſanft hinſtroͤmenden Unterredung dar. — Aus
ſeinem Munde ſenkte ſich, nach einer dichteriſchen
Darſtellung, vom Himmel eine goldne Kette nie-
der, bis zu dem lauſchenden Ohre der Sterblichen,
die der ſuͤße Wohllaut von ſeinen Lippen mit
maͤchtigem Zauber lenkte. —

Unwiderſtehlich iſt ſeine Macht, den Zwiſt zu
ſchlichten, das Streitende zu verſoͤhnen, und das
Mißtoͤnende harmoniſch zu verbinden. — Dem
Schooß der Mutter noch nicht lange entwunden,
ſchlug er mit ſeinem goldnen Stabe zwiſchen zwei
erzuͤrnte miteinander ſtreitende Schlangen, —
und dieſe vergaßen ploͤtzlich ihrer Wuth, und wik-
kelten ſich vereint, in ſanften Kruͤmmungen um
den Stab, bis an die Spitze, wo ihre Haͤupter
in ewiger Eintracht ſich begegnen.

Es giebt kein ſchoͤneres Sinnbild, um die
Verſoͤhnung und den Frieden, ſo wie die harmo-
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[157/0201] danken und die Klugheit zu erſetzen, was ihrer Wirkſamkeit an Macht abgeht. — Auch lieh die Phantaſie der Alten gern dem Worte Fluͤgel, weil es vom ſchnellen Hauch be- gleitet erſt hoͤrbar wird; und wenn der Laut nicht uͤber die Lippen kam, ſo war ihr ſchoͤner Aus- druck: dem Worte fehlten die Fluͤgel. Die Zunge der Opferthiere war dem Merkur geweiht; Milch und Honig brachte man dem Gott der ſanft hinſtroͤmenden Unterredung dar. — Aus ſeinem Munde ſenkte ſich, nach einer dichteriſchen Darſtellung, vom Himmel eine goldne Kette nie- der, bis zu dem lauſchenden Ohre der Sterblichen, die der ſuͤße Wohllaut von ſeinen Lippen mit maͤchtigem Zauber lenkte. — Unwiderſtehlich iſt ſeine Macht, den Zwiſt zu ſchlichten, das Streitende zu verſoͤhnen, und das Mißtoͤnende harmoniſch zu verbinden. — Dem Schooß der Mutter noch nicht lange entwunden, ſchlug er mit ſeinem goldnen Stabe zwiſchen zwei erzuͤrnte miteinander ſtreitende Schlangen, — und dieſe vergaßen ploͤtzlich ihrer Wuth, und wik- kelten ſich vereint, in ſanften Kruͤmmungen um den Stab, bis an die Spitze, wo ihre Haͤupter in ewiger Eintracht ſich begegnen. Es giebt kein ſchoͤneres Sinnbild, um die Verſoͤhnung und den Frieden, ſo wie die harmo- niſche Verbindung des Widerſtreitenden und Ent-

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/201>, abgerufen am 21.11.2024.