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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791.

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seine Bitte gewähren wolle; dann bat er ihn, daß
er nur einen Tag den Sonnenwagen lenken dürfe.

Helios, der den Schwur nicht widerrufen
konnte, mußte die unglückliche Bitte seinem Sohn
gewähren, der voller Muth den Wagen besteigend,
die Sonnenpferde antrieb, welche bald ihren Füh-
rer vermissend, aus dem Gleise wichen, zuerst
dem Himmel und dann der Erde zu nahe kamen,
daß Berg und Wald sich entzündete, und Quellen
und Flüsse versiegten; da flehte die Erde den Ju-
piter um Hülfe an, welcher seine Blitze auf den
Phaeton schleuderte, der in den Fluß Eridanus
stürzte, wo seine drei Schwestern, die Sonnen-
töchter oder Heliaden, Lampetia, Phaetusa,
und Aegle ihn so lange beweinten, bis sie in
Pappelbäume verwandelt wurden, und auch als
solche noch Zähren vergossen, die sich zu dem
durchsichtigen Bernstein in der Fluth verhär-
teten. -- Cygnus, des Jünglings Freund, be-
trauerte seinen Tod so lange, bis durch den
Schmerz sein Wesen aufgelößt, in die Gestalt des
Schwans hinüberging, der immer auf der Fluth
verweilte, welche den Phaeton verschlang. Mit
Freund und Schwestern, die um ihn klagen, findet
man auch auf den antiken Marmorsärgen, den
Sturz des Phaeton abgebildet.



B b

ſeine Bitte gewaͤhren wolle; dann bat er ihn, daß
er nur einen Tag den Sonnenwagen lenken duͤrfe.

Helios, der den Schwur nicht widerrufen
konnte, mußte die ungluͤckliche Bitte ſeinem Sohn
gewaͤhren, der voller Muth den Wagen beſteigend,
die Sonnenpferde antrieb, welche bald ihren Fuͤh-
rer vermiſſend, aus dem Gleiſe wichen, zuerſt
dem Himmel und dann der Erde zu nahe kamen,
daß Berg und Wald ſich entzuͤndete, und Quellen
und Fluͤſſe verſiegten; da flehte die Erde den Ju-
piter um Huͤlfe an, welcher ſeine Blitze auf den
Phaeton ſchleuderte, der in den Fluß Eridanus
ſtuͤrzte, wo ſeine drei Schweſtern, die Sonnen-
toͤchter oder Heliaden, Lampetia, Phaetuſa,
und Aegle ihn ſo lange beweinten, bis ſie in
Pappelbaͤume verwandelt wurden, und auch als
ſolche noch Zaͤhren vergoſſen, die ſich zu dem
durchſichtigen Bernſtein in der Fluth verhaͤr-
teten. — Cygnus, des Juͤnglings Freund, be-
trauerte ſeinen Tod ſo lange, bis durch den
Schmerz ſein Weſen aufgeloͤßt, in die Geſtalt des
Schwans hinuͤberging, der immer auf der Fluth
verweilte, welche den Phaeton verſchlang. Mit
Freund und Schweſtern, die um ihn klagen, findet
man auch auf den antiken Marmorſaͤrgen, den
Sturz des Phaeton abgebildet.



B b
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[385/0459] ſeine Bitte gewaͤhren wolle; dann bat er ihn, daß er nur einen Tag den Sonnenwagen lenken duͤrfe. Helios, der den Schwur nicht widerrufen konnte, mußte die ungluͤckliche Bitte ſeinem Sohn gewaͤhren, der voller Muth den Wagen beſteigend, die Sonnenpferde antrieb, welche bald ihren Fuͤh- rer vermiſſend, aus dem Gleiſe wichen, zuerſt dem Himmel und dann der Erde zu nahe kamen, daß Berg und Wald ſich entzuͤndete, und Quellen und Fluͤſſe verſiegten; da flehte die Erde den Ju- piter um Huͤlfe an, welcher ſeine Blitze auf den Phaeton ſchleuderte, der in den Fluß Eridanus ſtuͤrzte, wo ſeine drei Schweſtern, die Sonnen- toͤchter oder Heliaden, Lampetia, Phaetuſa, und Aegle ihn ſo lange beweinten, bis ſie in Pappelbaͤume verwandelt wurden, und auch als ſolche noch Zaͤhren vergoſſen, die ſich zu dem durchſichtigen Bernſtein in der Fluth verhaͤr- teten. — Cygnus, des Juͤnglings Freund, be- trauerte ſeinen Tod ſo lange, bis durch den Schmerz ſein Weſen aufgeloͤßt, in die Geſtalt des Schwans hinuͤberging, der immer auf der Fluth verweilte, welche den Phaeton verſchlang. Mit Freund und Schweſtern, die um ihn klagen, findet man auch auf den antiken Marmorſaͤrgen, den Sturz des Phaeton abgebildet. B b

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/459>, abgerufen am 21.11.2024.