Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

dete sich mit ihm, ging mit ihm spatzieren, und
konnte am Ende fast gar nicht mehr ohne ihn
seyn.

Dies war der erste Freund, den Anton auf
Erden fand: mit Wehmuth nahm er von ihm
Abschied. Der Engländer drückte ihm bei seiner
Abreise ein silbern Schaustück in die Hand, das
sollte er ihm zum Andenken aufbewahren, bis er
einmal nach England käme, wo ihm sein Haus
offen stände: nach funfzehn Jahren kam Anton
wirklich nach England, und hatte noch sein
Schaustück bei sich, aber der erste Freund seiner
Jugend war todt.

Anton sollte einmal diesen Engländer gegen
einen Fremden, der ihn besuchen wollte, ver¬
läugnen, und sagen, er sey nicht zu Hause.
Man konnte ihn auf keine Weise dazu bringen,
weil er keine Lüge begehen wollte.

Dies wurde ihm damals sehr hoch angerech¬
net, und war just einer der Fälle, wo er tugend¬
hafter scheinen wollte, als er wirklich war, denn
er hatte sich sonst eben aus einer Nothlüge nicht
so sehr viel gemacht; aber seinen wahren innern
Kampf, wo er oft seine unschuldigsten Wünsche

C 4

dete ſich mit ihm, ging mit ihm ſpatzieren, und
konnte am Ende faſt gar nicht mehr ohne ihn
ſeyn.

Dies war der erſte Freund, den Anton auf
Erden fand: mit Wehmuth nahm er von ihm
Abſchied. Der Englaͤnder druͤckte ihm bei ſeiner
Abreiſe ein ſilbern Schauſtuͤck in die Hand, das
ſollte er ihm zum Andenken aufbewahren, bis er
einmal nach England kaͤme, wo ihm ſein Haus
offen ſtaͤnde: nach funfzehn Jahren kam Anton
wirklich nach England, und hatte noch ſein
Schauſtuͤck bei ſich, aber der erſte Freund ſeiner
Jugend war todt.

Anton ſollte einmal dieſen Englaͤnder gegen
einen Fremden, der ihn beſuchen wollte, ver¬
laͤugnen, und ſagen, er ſey nicht zu Hauſe.
Man konnte ihn auf keine Weiſe dazu bringen,
weil er keine Luͤge begehen wollte.

Dies wurde ihm damals ſehr hoch angerech¬
net, und war juſt einer der Faͤlle, wo er tugend¬
hafter ſcheinen wollte, als er wirklich war, denn
er hatte ſich ſonſt eben aus einer Nothluͤge nicht
ſo ſehr viel gemacht; aber ſeinen wahren innern
Kampf, wo er oft ſeine unſchuldigſten Wuͤnſche

C 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0049" n="39"/>
dete &#x017F;ich mit ihm, ging mit ihm &#x017F;patzieren, und<lb/>
konnte am Ende fa&#x017F;t gar nicht mehr ohne ihn<lb/>
&#x017F;eyn.</p><lb/>
      <p>Dies war der er&#x017F;te Freund, den Anton auf<lb/>
Erden fand: mit Wehmuth nahm er von ihm<lb/>
Ab&#x017F;chied. Der Engla&#x0364;nder dru&#x0364;ckte ihm bei &#x017F;einer<lb/>
Abrei&#x017F;e ein &#x017F;ilbern Schau&#x017F;tu&#x0364;ck in die Hand, das<lb/>
&#x017F;ollte er ihm zum Andenken aufbewahren, bis er<lb/>
einmal nach England ka&#x0364;me, wo ihm &#x017F;ein Haus<lb/>
offen &#x017F;ta&#x0364;nde: nach funfzehn Jahren kam Anton<lb/>
wirklich nach England, und hatte noch &#x017F;ein<lb/>
Schau&#x017F;tu&#x0364;ck bei &#x017F;ich, aber der er&#x017F;te Freund &#x017F;einer<lb/>
Jugend war todt.</p><lb/>
      <p>Anton &#x017F;ollte einmal die&#x017F;en Engla&#x0364;nder gegen<lb/>
einen Fremden, der ihn be&#x017F;uchen wollte, ver¬<lb/>
la&#x0364;ugnen, und &#x017F;agen, er &#x017F;ey nicht zu Hau&#x017F;e.<lb/>
Man konnte ihn auf keine Wei&#x017F;e dazu bringen,<lb/>
weil er keine <hi rendition="#fr">Lu&#x0364;ge</hi> begehen wollte.</p><lb/>
      <p>Dies wurde ihm damals &#x017F;ehr hoch angerech¬<lb/>
net, und war ju&#x017F;t einer der Fa&#x0364;lle, wo er tugend¬<lb/>
hafter &#x017F;cheinen wollte, als er wirklich war, denn<lb/>
er hatte &#x017F;ich &#x017F;on&#x017F;t eben aus einer Nothlu&#x0364;ge nicht<lb/>
&#x017F;o &#x017F;ehr viel gemacht; aber &#x017F;einen wahren innern<lb/>
Kampf, wo er oft &#x017F;eine un&#x017F;chuldig&#x017F;ten Wu&#x0364;n&#x017F;che<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">C 4<lb/></fw>
</p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[39/0049] dete ſich mit ihm, ging mit ihm ſpatzieren, und konnte am Ende faſt gar nicht mehr ohne ihn ſeyn. Dies war der erſte Freund, den Anton auf Erden fand: mit Wehmuth nahm er von ihm Abſchied. Der Englaͤnder druͤckte ihm bei ſeiner Abreiſe ein ſilbern Schauſtuͤck in die Hand, das ſollte er ihm zum Andenken aufbewahren, bis er einmal nach England kaͤme, wo ihm ſein Haus offen ſtaͤnde: nach funfzehn Jahren kam Anton wirklich nach England, und hatte noch ſein Schauſtuͤck bei ſich, aber der erſte Freund ſeiner Jugend war todt. Anton ſollte einmal dieſen Englaͤnder gegen einen Fremden, der ihn beſuchen wollte, ver¬ laͤugnen, und ſagen, er ſey nicht zu Hauſe. Man konnte ihn auf keine Weiſe dazu bringen, weil er keine Luͤge begehen wollte. Dies wurde ihm damals ſehr hoch angerech¬ net, und war juſt einer der Faͤlle, wo er tugend¬ hafter ſcheinen wollte, als er wirklich war, denn er hatte ſich ſonſt eben aus einer Nothluͤge nicht ſo ſehr viel gemacht; aber ſeinen wahren innern Kampf, wo er oft ſeine unſchuldigſten Wuͤnſche C 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/49
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/49>, abgerufen am 04.12.2024.