Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Bald nach der Zurückkunft seiner Eltern in
H... trat Anton in sein zwölftes Jahr, worin
ihm wiederum sehr viele Veränderungen bevor¬
standen: denn noch in diesem Jahre sollte er
von seinen Eltern getrennt werden. Fürs erste
stand ihm eine große Freude bevor.

Antons Vater ließ ihn auf Zureden eini¬
ger Bekannten in der öffentlichen Stadtschule
eine lateinische Privatstunde besuchen, damit
er wenigstens auf alle Fälle, wie es hieß,
einen Kasum solle setzen lernen. In die übri¬
gen Stunden der öffentlichen Schule aber,
worin Religionsunterricht die Hauptsache war,
wollte ihn sein Vater, zum größten Leidwesen
seiner Mutter und Anverwandten, schlechter¬
dings nicht schicken.

Nun war doch einer von Antons eifrigsten
Wünschen, einmal in eine öffentliche Stadtschule
gehen zu dürfen, zum Theil erfüllt.

Beim ersten Eintritt waren ihm schon die
dicken Mauern, dunklen gewölbten Gemächer,
hundertjährigen Bänke, und vom Wurm durch¬
löcherten Katheder, nichts wie Heiligthümer, die
seine Seele mit Ehrfurcht erfüllten.

D 5

Bald nach der Zuruͤckkunft ſeiner Eltern in
H... trat Anton in ſein zwoͤlftes Jahr, worin
ihm wiederum ſehr viele Veraͤnderungen bevor¬
ſtanden: denn noch in dieſem Jahre ſollte er
von ſeinen Eltern getrennt werden. Fuͤrs erſte
ſtand ihm eine große Freude bevor.

Antons Vater ließ ihn auf Zureden eini¬
ger Bekannten in der oͤffentlichen Stadtſchule
eine lateiniſche Privatſtunde beſuchen, damit
er wenigſtens auf alle Faͤlle, wie es hieß,
einen Kaſum ſolle ſetzen lernen. In die uͤbri¬
gen Stunden der oͤffentlichen Schule aber,
worin Religionsunterricht die Hauptſache war,
wollte ihn ſein Vater, zum groͤßten Leidweſen
ſeiner Mutter und Anverwandten, ſchlechter¬
dings nicht ſchicken.

Nun war doch einer von Antons eifrigſten
Wuͤnſchen, einmal in eine oͤffentliche Stadtſchule
gehen zu duͤrfen, zum Theil erfuͤllt.

Beim erſten Eintritt waren ihm ſchon die
dicken Mauern, dunklen gewoͤlbten Gemaͤcher,
hundertjaͤhrigen Baͤnke, und vom Wurm durch¬
loͤcherten Katheder, nichts wie Heiligthuͤmer, die
ſeine Seele mit Ehrfurcht erfuͤllten.

D 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0067" n="57"/>
      <p>Bald nach der Zuru&#x0364;ckkunft &#x017F;einer Eltern in<lb/>
H... trat Anton in &#x017F;ein zwo&#x0364;lftes Jahr, worin<lb/>
ihm wiederum &#x017F;ehr viele Vera&#x0364;nderungen bevor¬<lb/>
&#x017F;tanden: denn noch in die&#x017F;em Jahre &#x017F;ollte er<lb/>
von &#x017F;einen Eltern getrennt werden. Fu&#x0364;rs er&#x017F;te<lb/>
&#x017F;tand ihm eine große Freude bevor.</p><lb/>
      <p>Antons Vater ließ ihn auf Zureden eini¬<lb/>
ger Bekannten in der o&#x0364;ffentlichen Stadt&#x017F;chule<lb/>
eine lateini&#x017F;che Privat&#x017F;tunde be&#x017F;uchen, damit<lb/>
er wenig&#x017F;tens auf alle Fa&#x0364;lle, wie es hieß,<lb/>
einen Ka&#x017F;um &#x017F;olle &#x017F;etzen lernen. In die u&#x0364;bri¬<lb/>
gen Stunden der o&#x0364;ffentlichen Schule aber,<lb/>
worin Religionsunterricht die Haupt&#x017F;ache war,<lb/>
wollte ihn &#x017F;ein Vater, zum gro&#x0364;ßten Leidwe&#x017F;en<lb/>
&#x017F;einer Mutter und Anverwandten, &#x017F;chlechter¬<lb/>
dings nicht &#x017F;chicken.</p><lb/>
      <p>Nun war doch einer von Antons eifrig&#x017F;ten<lb/>
Wu&#x0364;n&#x017F;chen, einmal in eine o&#x0364;ffentliche Stadt&#x017F;chule<lb/>
gehen zu du&#x0364;rfen, zum Theil erfu&#x0364;llt.</p><lb/>
      <p>Beim er&#x017F;ten Eintritt waren ihm &#x017F;chon die<lb/>
dicken Mauern, dunklen gewo&#x0364;lbten Gema&#x0364;cher,<lb/>
hundertja&#x0364;hrigen Ba&#x0364;nke, und vom Wurm durch¬<lb/>
lo&#x0364;cherten Katheder, nichts wie Heiligthu&#x0364;mer, die<lb/>
&#x017F;eine Seele mit Ehrfurcht erfu&#x0364;llten.</p><lb/>
      <fw place="bottom" type="sig">D 5<lb/></fw>
    </body>
  </text>
</TEI>
[57/0067] Bald nach der Zuruͤckkunft ſeiner Eltern in H... trat Anton in ſein zwoͤlftes Jahr, worin ihm wiederum ſehr viele Veraͤnderungen bevor¬ ſtanden: denn noch in dieſem Jahre ſollte er von ſeinen Eltern getrennt werden. Fuͤrs erſte ſtand ihm eine große Freude bevor. Antons Vater ließ ihn auf Zureden eini¬ ger Bekannten in der oͤffentlichen Stadtſchule eine lateiniſche Privatſtunde beſuchen, damit er wenigſtens auf alle Faͤlle, wie es hieß, einen Kaſum ſolle ſetzen lernen. In die uͤbri¬ gen Stunden der oͤffentlichen Schule aber, worin Religionsunterricht die Hauptſache war, wollte ihn ſein Vater, zum groͤßten Leidweſen ſeiner Mutter und Anverwandten, ſchlechter¬ dings nicht ſchicken. Nun war doch einer von Antons eifrigſten Wuͤnſchen, einmal in eine oͤffentliche Stadtſchule gehen zu duͤrfen, zum Theil erfuͤllt. Beim erſten Eintritt waren ihm ſchon die dicken Mauern, dunklen gewoͤlbten Gemaͤcher, hundertjaͤhrigen Baͤnke, und vom Wurm durch¬ loͤcherten Katheder, nichts wie Heiligthuͤmer, die ſeine Seele mit Ehrfurcht erfuͤllten. D 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/67
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/67>, abgerufen am 04.12.2024.