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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 4. Berlin, 1790.

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zurückgebliebene Idee aus Werthers Leiden
seyn, oder nicht, so war es doch bei Reisern ge¬
wiß nicht Affektation, sondern machte ihm würk¬
liches und reines Vergnügen -- denn kein Buch
paßte ja so sehr auf seinen Zustand, als grade
dieses, welches in allen Zeilen den vielgewan¬
derten Mann schildert, der viele, Menschen,
Städte und Sitten gesehen hat, und endlich
nach langen Jahren in seiner Heimath wieder
anlangt, und dieselben Menschen, die er
dort verlassen hat, und nimmer wieder zu sehen
glaubte, auch endlich noch wieder findet.

Der Weg ging nun immer Berg auf, Berg
ab. -- Die Hitze war ziemlich groß, und Rei¬
ser löschte seinen Durst, so oft er einen klaren
Bach antraf, aus welchem ihm umsonst zu schö¬
pfen frei stand.

In dem Dorfe, wo er die erste Nacht blieb,
war die Gaststube voller Bauern, die einen großen
Lerm machten, so daß es ihm nicht möglich war,
zu lesen; er beschäftigte sich also mit seinen Ge¬
danken; und eine steinalte Frau, die im Lehn¬
stuhle saß, und mit dem Kopfe bebte, zog seine
ganze Aufmerksamkeit auf sich. --

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zuruͤckgebliebene Idee aus Werthers Leiden
ſeyn, oder nicht, ſo war es doch bei Reiſern ge¬
wiß nicht Affektation, ſondern machte ihm wuͤrk¬
liches und reines Vergnuͤgen — denn kein Buch
paßte ja ſo ſehr auf ſeinen Zuſtand, als grade
dieſes, welches in allen Zeilen den vielgewan¬
derten Mann ſchildert, der viele, Menſchen,
Staͤdte und Sitten geſehen hat, und endlich
nach langen Jahren in ſeiner Heimath wieder
anlangt, und dieſelben Menſchen, die er
dort verlaſſen hat, und nimmer wieder zu ſehen
glaubte, auch endlich noch wieder findet.

Der Weg ging nun immer Berg auf, Berg
ab. — Die Hitze war ziemlich groß, und Rei¬
ſer loͤſchte ſeinen Durſt, ſo oft er einen klaren
Bach antraf, aus welchem ihm umſonſt zu ſchoͤ¬
pfen frei ſtand.

In dem Dorfe, wo er die erſte Nacht blieb,
war die Gaſtſtube voller Bauern, die einen großen
Lerm machten, ſo daß es ihm nicht moͤglich war,
zu leſen; er beſchaͤftigte ſich alſo mit ſeinen Ge¬
danken; und eine ſteinalte Frau, die im Lehn¬
ſtuhle ſaß, und mit dem Kopfe bebte, zog ſeine
ganze Aufmerkſamkeit auf ſich. —

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[9/0023] zuruͤckgebliebene Idee aus Werthers Leiden ſeyn, oder nicht, ſo war es doch bei Reiſern ge¬ wiß nicht Affektation, ſondern machte ihm wuͤrk¬ liches und reines Vergnuͤgen — denn kein Buch paßte ja ſo ſehr auf ſeinen Zuſtand, als grade dieſes, welches in allen Zeilen den vielgewan¬ derten Mann ſchildert, der viele, Menſchen, Staͤdte und Sitten geſehen hat, und endlich nach langen Jahren in ſeiner Heimath wieder anlangt, und dieſelben Menſchen, die er dort verlaſſen hat, und nimmer wieder zu ſehen glaubte, auch endlich noch wieder findet. Der Weg ging nun immer Berg auf, Berg ab. — Die Hitze war ziemlich groß, und Rei¬ ſer loͤſchte ſeinen Durſt, ſo oft er einen klaren Bach antraf, aus welchem ihm umſonſt zu ſchoͤ¬ pfen frei ſtand. In dem Dorfe, wo er die erſte Nacht blieb, war die Gaſtſtube voller Bauern, die einen großen Lerm machten, ſo daß es ihm nicht moͤglich war, zu leſen; er beſchaͤftigte ſich alſo mit ſeinen Ge¬ danken; und eine ſteinalte Frau, die im Lehn¬ ſtuhle ſaß, und mit dem Kopfe bebte, zog ſeine ganze Aufmerkſamkeit auf ſich. — A 5

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 4. Berlin, 1790, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser04_1790/23>, abgerufen am 21.11.2024.