Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

lichen Rache ist nichts unerreichbar. Er ist ein furcht-
barer Gott, wie er von den Zinnen der Burg herab
die Troer mit lautem Schlachtgeschrei zum Kampfe
treibt 1, und ihnen als laossoos, eine Wolke um die
Schultern und die Aegis in der Hand, vorschreitet 2,
an Kriegsgewalt Ares 3, obgleich über dessen stürmi-
schen Trotz hoch erhaben. Den verderblichsten Gott
nennt ihn Achilleus, dem er freilich besonders feindlich
ist. Selbst wenn er unter den Göttern erscheint, zit-
tern Alle im Hause des Zeus vor ihm und fah-
ren von den Sitzen; nur Leto freut sich, daß sie einen
starken und bogentragenden Gott geboren hat 4.

Es ist auffallend, mit welchem strengen Ernst Ho-
mer, der doch sonst die Gottheiten und besonders die
Freunde der Troer mit parodischer Leichtfertigkeit dar-
stellt, den Charakter des Apollon auffaßt. Nie zeigt
er ihn von blinder Leidenschaft ergriffen. Auch die
Griechen feindet er nicht grundlos und nach Willkühr
an, sondern nur, wenn sie das heilige Recht des Prie-
sters und Flehenden verletzen, oder in schrankenlosem
Uebermuth über alles Maaß hinausgehn. Aber als
die Götter sich selbst entzweien und in Kampf treten:
vermeidet er, von Leidenschaft unbewegt, den Streit,
und redet von der Vergänglichkeit der schnell aufblü-
henden und bald hinwelkenden Menschengeschlechter in
einem Tone, der den Pythischen Orakelgott bezeichnet 5.
Ein ähnlicher Geist wehet in den Worten, mit denen
er den tollkühnen Diomedes zurückscheucht, "nicht gleich
sei der unsterblichen Götter Geschlecht und der niedrig
wandelnden Menschen." So verwaltet Apollon hier

1 Il. 4, 508. 7, 21.
2 15, 308. 16, 703.
3 vgl.
Pind. P. 4, 86.
4 Hom. H. auf Ap. Del. 13.
5 Il.
21, 464. vgl. 24, 40. o out ar phrenes eisin enaisimoi.

lichen Rache iſt nichts unerreichbar. Er iſt ein furcht-
barer Gott, wie er von den Zinnen der Burg herab
die Troer mit lautem Schlachtgeſchrei zum Kampfe
treibt 1, und ihnen als λαοσσόος, eine Wolke um die
Schultern und die Aegis in der Hand, vorſchreitet 2,
an Kriegsgewalt Ares 3, obgleich uͤber deſſen ſtuͤrmi-
ſchen Trotz hoch erhaben. Den verderblichſten Gott
nennt ihn Achilleus, dem er freilich beſonders feindlich
iſt. Selbſt wenn er unter den Goͤttern erſcheint, zit-
tern Alle im Hauſe des Zeus vor ihm und fah-
ren von den Sitzen; nur Leto freut ſich, daß ſie einen
ſtarken und bogentragenden Gott geboren hat 4.

Es iſt auffallend, mit welchem ſtrengen Ernſt Ho-
mer, der doch ſonſt die Gottheiten und beſonders die
Freunde der Troer mit parodiſcher Leichtfertigkeit dar-
ſtellt, den Charakter des Apollon auffaßt. Nie zeigt
er ihn von blinder Leidenſchaft ergriffen. Auch die
Griechen feindet er nicht grundlos und nach Willkuͤhr
an, ſondern nur, wenn ſie das heilige Recht des Prie-
ſters und Flehenden verletzen, oder in ſchrankenloſem
Uebermuth uͤber alles Maaß hinausgehn. Aber als
die Goͤtter ſich ſelbſt entzweien und in Kampf treten:
vermeidet er, von Leidenſchaft unbewegt, den Streit,
und redet von der Vergaͤnglichkeit der ſchnell aufbluͤ-
henden und bald hinwelkenden Menſchengeſchlechter in
einem Tone, der den Pythiſchen Orakelgott bezeichnet 5.
Ein aͤhnlicher Geiſt wehet in den Worten, mit denen
er den tollkuͤhnen Diomedes zuruͤckſcheucht, “nicht gleich
ſei der unſterblichen Goͤtter Geſchlecht und der niedrig
wandelnden Menſchen.” So verwaltet Apollon hier

1 Il. 4, 508. 7, 21.
2 15, 308. 16, 703.
3 vgl.
Pind. P. 4, 86.
4 Hom. H. auf Ap. Del. 13.
5 Il.
21, 464. vgl. 24, 40. ᾧ οὕτ̕ ἄϱ φϱένες εἰσὶν ἐναίσιμοι.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0323" n="293"/>
lichen Rache i&#x017F;t nichts unerreichbar. Er i&#x017F;t ein furcht-<lb/>
barer Gott, wie er von den Zinnen der Burg herab<lb/>
die Troer mit lautem Schlachtge&#x017F;chrei zum Kampfe<lb/>
treibt <note place="foot" n="1">Il. 4, 508. 7, 21.</note>, und ihnen als &#x03BB;&#x03B1;&#x03BF;&#x03C3;&#x03C3;&#x03CC;&#x03BF;&#x03C2;, eine Wolke um die<lb/>
Schultern und die Aegis in der Hand, vor&#x017F;chreitet <note place="foot" n="2">15, 308. 16, 703.</note>,<lb/>
an Kriegsgewalt Ares <note place="foot" n="3">vgl.<lb/>
Pind. P. 4, 86.</note>, obgleich u&#x0364;ber de&#x017F;&#x017F;en &#x017F;tu&#x0364;rmi-<lb/>
&#x017F;chen Trotz hoch erhaben. Den verderblich&#x017F;ten Gott<lb/>
nennt ihn Achilleus, dem er freilich be&#x017F;onders feindlich<lb/>
i&#x017F;t. Selb&#x017F;t wenn er unter den Go&#x0364;ttern er&#x017F;cheint, zit-<lb/>
tern Alle im Hau&#x017F;e des Zeus vor ihm und fah-<lb/>
ren von den Sitzen; nur Leto freut &#x017F;ich, daß &#x017F;ie einen<lb/>
&#x017F;tarken und bogentragenden Gott geboren hat <note place="foot" n="4">Hom. H. auf Ap. Del. 13.</note>.</p><lb/>
              <p>Es i&#x017F;t auffallend, mit welchem &#x017F;trengen Ern&#x017F;t Ho-<lb/>
mer, der doch &#x017F;on&#x017F;t die Gottheiten und be&#x017F;onders die<lb/>
Freunde der Troer mit parodi&#x017F;cher Leichtfertigkeit dar-<lb/>
&#x017F;tellt, den Charakter des Apollon auffaßt. Nie zeigt<lb/>
er ihn von blinder Leiden&#x017F;chaft ergriffen. Auch die<lb/>
Griechen feindet er nicht grundlos und nach Willku&#x0364;hr<lb/>
an, &#x017F;ondern nur, wenn &#x017F;ie das heilige Recht des Prie-<lb/>
&#x017F;ters und Flehenden verletzen, oder in &#x017F;chrankenlo&#x017F;em<lb/>
Uebermuth u&#x0364;ber alles Maaß hinausgehn. Aber als<lb/>
die Go&#x0364;tter &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t entzweien und in Kampf treten:<lb/>
vermeidet er, von Leiden&#x017F;chaft unbewegt, den Streit,<lb/>
und redet von der Verga&#x0364;nglichkeit der &#x017F;chnell aufblu&#x0364;-<lb/>
henden und bald hinwelkenden Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechter in<lb/>
einem Tone, der den Pythi&#x017F;chen Orakelgott bezeichnet <note place="foot" n="5">Il.<lb/>
21, 464. vgl. 24, 40. &#x1FA7; &#x03BF;&#x1F55;&#x03C4;&#x0315; &#x1F04;&#x03F1; &#x03C6;&#x03F1;&#x03AD;&#x03BD;&#x03B5;&#x03C2; &#x03B5;&#x1F30;&#x03C3;&#x1F76;&#x03BD; &#x1F10;&#x03BD;&#x03B1;&#x03AF;&#x03C3;&#x03B9;&#x03BC;&#x03BF;&#x03B9;.</note>.<lb/>
Ein a&#x0364;hnlicher Gei&#x017F;t wehet in den Worten, mit denen<lb/>
er den tollku&#x0364;hnen Diomedes zuru&#x0364;ck&#x017F;cheucht, &#x201C;nicht gleich<lb/>
&#x017F;ei der un&#x017F;terblichen Go&#x0364;tter Ge&#x017F;chlecht und der niedrig<lb/>
wandelnden Men&#x017F;chen.&#x201D; So verwaltet Apollon hier<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[293/0323] lichen Rache iſt nichts unerreichbar. Er iſt ein furcht- barer Gott, wie er von den Zinnen der Burg herab die Troer mit lautem Schlachtgeſchrei zum Kampfe treibt 1, und ihnen als λαοσσόος, eine Wolke um die Schultern und die Aegis in der Hand, vorſchreitet 2, an Kriegsgewalt Ares 3, obgleich uͤber deſſen ſtuͤrmi- ſchen Trotz hoch erhaben. Den verderblichſten Gott nennt ihn Achilleus, dem er freilich beſonders feindlich iſt. Selbſt wenn er unter den Goͤttern erſcheint, zit- tern Alle im Hauſe des Zeus vor ihm und fah- ren von den Sitzen; nur Leto freut ſich, daß ſie einen ſtarken und bogentragenden Gott geboren hat 4. Es iſt auffallend, mit welchem ſtrengen Ernſt Ho- mer, der doch ſonſt die Gottheiten und beſonders die Freunde der Troer mit parodiſcher Leichtfertigkeit dar- ſtellt, den Charakter des Apollon auffaßt. Nie zeigt er ihn von blinder Leidenſchaft ergriffen. Auch die Griechen feindet er nicht grundlos und nach Willkuͤhr an, ſondern nur, wenn ſie das heilige Recht des Prie- ſters und Flehenden verletzen, oder in ſchrankenloſem Uebermuth uͤber alles Maaß hinausgehn. Aber als die Goͤtter ſich ſelbſt entzweien und in Kampf treten: vermeidet er, von Leidenſchaft unbewegt, den Streit, und redet von der Vergaͤnglichkeit der ſchnell aufbluͤ- henden und bald hinwelkenden Menſchengeſchlechter in einem Tone, der den Pythiſchen Orakelgott bezeichnet 5. Ein aͤhnlicher Geiſt wehet in den Worten, mit denen er den tollkuͤhnen Diomedes zuruͤckſcheucht, “nicht gleich ſei der unſterblichen Goͤtter Geſchlecht und der niedrig wandelnden Menſchen.” So verwaltet Apollon hier 1 Il. 4, 508. 7, 21. 2 15, 308. 16, 703. 3 vgl. Pind. P. 4, 86. 4 Hom. H. auf Ap. Del. 13. 5 Il. 21, 464. vgl. 24, 40. ᾧ οὕτ̕ ἄϱ φϱένες εἰσὶν ἐναίσιμοι.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/323
Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/323>, abgerufen am 24.11.2024.