Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

das musos abgewandt. In älterer Zeit fand die Rei-
nigung wohl immer außerhalb der Heimat, oft in den
älteren Sitzen des Geschlechts statt; in Athen nach der
Rückkehr. Hier waren natürlich die Fälle sühnbaren
Mordes weit seltener als in altheroischer Zeit, da bei
weniger geordneten Staatsverhältnissen und engeren
Familienbanden weit mehr Veranlassungen und Ent-
schuldigungen des Todtschlages waren. Damals muß-
ten daher Institute von doppelter Wichtigkeit sein, wel-
che die furchtbaren Wirkungen einer unglücklichen That
zu hemmen, den innerlich Zerrütteten selbst zu beruhi-
gen, und der nie rastenden Blutrache Gränzen zu setzen
bestimmt waren 1.

Durch diese alte Verbindung der religiösen Expia-
tionen und der Eriminal-Gerichtsbarkeit erklärt sich,
wie Apoll in Athen allgemeiner Gerichtsvorstand sein
konnte, daher vor jedem Gerichtshofe die Statue eines
Wolfes 2. Und eben deswegen stellte man ihn in Te-
nedos mit dem Doppelbeil bewaffnet dar, mit dem auf
dieser Insel Ehebrecher gerichtet wurden 3.

7.

Ich berühre eine dritte Classe von Reinigungen
mit wenig Worten, die ganz lokalen von Häusern, Or-
ten oder Gegenden, denen ebenfalls Apollon vorstehend
geglaubt wurde 4, daher sie auch Teiresias, der Pro-
phet des Ismenions zu Theben, versieht 5, wie später

1 Wir werden dies Thema noch bei Herakles weiter fortfüh-
ren. Hier bemerken wir nur gegen Lobecks (de praec. myst. 2.
p.
6.) Behauptung: alle Expiationen in der heroischen Mytholo-
gie seien ab historicis ficta, daß schon nach Arktinos Erzählung
(Aethiopis bei Procl. Chrest. vgl. Tychsen de Quinto p. 61.)
Achill nach Thersites Mord nach Lesbos flieht, u. dort nach Opfern
an Ap. u. Artemis von Odysseus expiirt wird.
2 S. oben
S. 245, 3.
3 S. unten.
4 Aeschyl. Eum. 62.
5 Theokrit 24.

das μῦσος abgewandt. In aͤlterer Zeit fand die Rei-
nigung wohl immer außerhalb der Heimat, oft in den
aͤlteren Sitzen des Geſchlechts ſtatt; in Athen nach der
Ruͤckkehr. Hier waren natuͤrlich die Faͤlle ſuͤhnbaren
Mordes weit ſeltener als in altheroiſcher Zeit, da bei
weniger geordneten Staatsverhaͤltniſſen und engeren
Familienbanden weit mehr Veranlaſſungen und Ent-
ſchuldigungen des Todtſchlages waren. Damals muß-
ten daher Inſtitute von doppelter Wichtigkeit ſein, wel-
che die furchtbaren Wirkungen einer ungluͤcklichen That
zu hemmen, den innerlich Zerruͤtteten ſelbſt zu beruhi-
gen, und der nie raſtenden Blutrache Graͤnzen zu ſetzen
beſtimmt waren 1.

Durch dieſe alte Verbindung der religioͤſen Expia-
tionen und der Eriminal-Gerichtsbarkeit erklaͤrt ſich,
wie Apoll in Athen allgemeiner Gerichtsvorſtand ſein
konnte, daher vor jedem Gerichtshofe die Statue eines
Wolfes 2. Und eben deswegen ſtellte man ihn in Te-
nedos mit dem Doppelbeil bewaffnet dar, mit dem auf
dieſer Inſel Ehebrecher gerichtet wurden 3.

7.

Ich beruͤhre eine dritte Claſſe von Reinigungen
mit wenig Worten, die ganz lokalen von Haͤuſern, Or-
ten oder Gegenden, denen ebenfalls Apollon vorſtehend
geglaubt wurde 4, daher ſie auch Teireſias, der Pro-
phet des Ismenions zu Theben, verſieht 5, wie ſpaͤter

1 Wir werden dies Thema noch bei Herakles weiter fortfuͤh-
ren. Hier bemerken wir nur gegen Lobecks (de praec. myst. 2.
p.
6.) Behauptung: alle Expiationen in der heroiſchen Mytholo-
gie ſeien ab historicis ficta, daß ſchon nach Arktinos Erzaͤhlung
(Aethiopis bei Procl. Chreſt. vgl. Tychſen de Quinto p. 61.)
Achill nach Therſites Mord nach Lesbos flieht, u. dort nach Opfern
an Ap. u. Artemis von Odyſſeus expiirt wird.
2 S. oben
S. 245, 3.
3 S. unten.
4 Aeſchyl. Eum. 62.
5 Theokrit 24.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0365" n="335"/>
das &#x03BC;&#x1FE6;&#x03C3;&#x03BF;&#x03C2; abgewandt. In a&#x0364;lterer Zeit fand die Rei-<lb/>
nigung wohl immer außerhalb der Heimat, oft in den<lb/>
a&#x0364;lteren Sitzen des Ge&#x017F;chlechts &#x017F;tatt; in Athen nach der<lb/>
Ru&#x0364;ckkehr. Hier waren natu&#x0364;rlich die Fa&#x0364;lle &#x017F;u&#x0364;hnbaren<lb/>
Mordes weit &#x017F;eltener als in altheroi&#x017F;cher Zeit, da bei<lb/>
weniger geordneten Staatsverha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en und engeren<lb/>
Familienbanden weit mehr Veranla&#x017F;&#x017F;ungen und Ent-<lb/>
&#x017F;chuldigungen des Todt&#x017F;chlages waren. Damals muß-<lb/>
ten daher In&#x017F;titute von doppelter Wichtigkeit &#x017F;ein, wel-<lb/>
che die furchtbaren Wirkungen einer unglu&#x0364;cklichen That<lb/>
zu hemmen, den innerlich Zerru&#x0364;tteten &#x017F;elb&#x017F;t zu beruhi-<lb/>
gen, und der nie ra&#x017F;tenden Blutrache Gra&#x0364;nzen zu &#x017F;etzen<lb/>
be&#x017F;timmt waren <note place="foot" n="1">Wir werden dies Thema noch bei Herakles weiter  fortfu&#x0364;h-<lb/>
ren. Hier bemerken wir nur gegen Lobecks (<hi rendition="#aq">de praec. myst. 2.<lb/>
p.</hi> 6.) Behauptung: alle Expiationen in der heroi&#x017F;chen Mytholo-<lb/>
gie &#x017F;eien <hi rendition="#aq">ab historicis ficta,</hi> daß &#x017F;chon nach <hi rendition="#g">Arktinos</hi> Erza&#x0364;hlung<lb/>
(Aethiopis bei Procl. Chre&#x017F;t. vgl. Tych&#x017F;en <hi rendition="#aq">de Quinto p.</hi> 61.)<lb/>
Achill nach Ther&#x017F;ites Mord nach Lesbos flieht, u. dort nach Opfern<lb/>
an Ap. u. Artemis von Ody&#x017F;&#x017F;eus expiirt wird.</note>.</p><lb/>
              <p>Durch die&#x017F;e alte Verbindung der religio&#x0364;&#x017F;en Expia-<lb/>
tionen und der Eriminal-Gerichtsbarkeit erkla&#x0364;rt &#x017F;ich,<lb/>
wie Apoll in Athen allgemeiner Gerichtsvor&#x017F;tand &#x017F;ein<lb/>
konnte, daher vor jedem Gerichtshofe die Statue eines<lb/>
Wolfes <note place="foot" n="2">S. oben<lb/>
S. 245, 3.</note>. Und eben deswegen &#x017F;tellte man ihn in Te-<lb/>
nedos mit dem Doppelbeil bewaffnet dar, mit dem auf<lb/>
die&#x017F;er In&#x017F;el Ehebrecher gerichtet wurden <note place="foot" n="3">S. unten.</note>.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>7.</head><lb/>
              <p>Ich beru&#x0364;hre eine dritte Cla&#x017F;&#x017F;e von Reinigungen<lb/>
mit wenig Worten, die ganz lokalen von Ha&#x0364;u&#x017F;ern, Or-<lb/>
ten oder Gegenden, denen ebenfalls Apollon vor&#x017F;tehend<lb/>
geglaubt wurde <note place="foot" n="4">Ae&#x017F;chyl. Eum. 62.</note>, daher &#x017F;ie auch Teire&#x017F;ias, der Pro-<lb/>
phet des Ismenions zu Theben, ver&#x017F;ieht <note place="foot" n="5">Theokrit 24.</note>, wie &#x017F;pa&#x0364;ter<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[335/0365] das μῦσος abgewandt. In aͤlterer Zeit fand die Rei- nigung wohl immer außerhalb der Heimat, oft in den aͤlteren Sitzen des Geſchlechts ſtatt; in Athen nach der Ruͤckkehr. Hier waren natuͤrlich die Faͤlle ſuͤhnbaren Mordes weit ſeltener als in altheroiſcher Zeit, da bei weniger geordneten Staatsverhaͤltniſſen und engeren Familienbanden weit mehr Veranlaſſungen und Ent- ſchuldigungen des Todtſchlages waren. Damals muß- ten daher Inſtitute von doppelter Wichtigkeit ſein, wel- che die furchtbaren Wirkungen einer ungluͤcklichen That zu hemmen, den innerlich Zerruͤtteten ſelbſt zu beruhi- gen, und der nie raſtenden Blutrache Graͤnzen zu ſetzen beſtimmt waren 1. Durch dieſe alte Verbindung der religioͤſen Expia- tionen und der Eriminal-Gerichtsbarkeit erklaͤrt ſich, wie Apoll in Athen allgemeiner Gerichtsvorſtand ſein konnte, daher vor jedem Gerichtshofe die Statue eines Wolfes 2. Und eben deswegen ſtellte man ihn in Te- nedos mit dem Doppelbeil bewaffnet dar, mit dem auf dieſer Inſel Ehebrecher gerichtet wurden 3. 7. Ich beruͤhre eine dritte Claſſe von Reinigungen mit wenig Worten, die ganz lokalen von Haͤuſern, Or- ten oder Gegenden, denen ebenfalls Apollon vorſtehend geglaubt wurde 4, daher ſie auch Teireſias, der Pro- phet des Ismenions zu Theben, verſieht 5, wie ſpaͤter 1 Wir werden dies Thema noch bei Herakles weiter fortfuͤh- ren. Hier bemerken wir nur gegen Lobecks (de praec. myst. 2. p. 6.) Behauptung: alle Expiationen in der heroiſchen Mytholo- gie ſeien ab historicis ficta, daß ſchon nach Arktinos Erzaͤhlung (Aethiopis bei Procl. Chreſt. vgl. Tychſen de Quinto p. 61.) Achill nach Therſites Mord nach Lesbos flieht, u. dort nach Opfern an Ap. u. Artemis von Odyſſeus expiirt wird. 2 S. oben S. 245, 3. 3 S. unten. 4 Aeſchyl. Eum. 62. 5 Theokrit 24.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/365
Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/365>, abgerufen am 22.11.2024.