-- nicht zwar mehr jene dem Werke des Kanachos zugeschriebenen Züge, aber doch ganz andere als die berühmtesten der erhaltenen Statuen, breitere Wangen, eine kürzere und stärkere Nase, überhaupt solche Formen, die die Alten quadrat nennen, darlegen. Erst in den Zeiten der Skopas, Leochares, Praxiteles, Timarchi- des, ist jener Apoll entstanden, den man einen Zwil- lingsbruder der Venus nennen kann, zu so täuschender Nähe kommen sich bisweilen die Züge beider Gotthei- ten; auch der Ausdruck von Begeisterung und Ekstase, den mehrere der trefflichsten Bilder zeigen, kann wohl erst aus der Schule des erstgenannten Meisters abge- leitet werden, da die früheren mehr ruhige und wan- dellose Seelenzustände als vorübergehende Gemüthsbe- wegungen zum Vorwurf ihrer Kunst machten. Aber der feine Sinn und das richtige Gefühl, womit diese Künstler den Ausdruck einer Seelenerhebung ohne Be- rauschung und der Begeisterung ohne Ueberspannung auszudrücken wußten, ist der höchsten Bewunderung werth. Ohne in die einzelnen Schöpfungen dieser und der folgenden Künstler einzugehn, worauf wir oben schon verzichteten, geben wir nur im Allgemeinen an, wie sich die vorhandenen Werke am besten in Classen ordnen. Für sich allein steht der Kallinikos von Bel- vedere, in dem Siegerstolz vorherrscht 1; dann folgt der vom Kampfe ausruhende, der den rechten Arm über das Haupt schmiegt, den linken auf eine Säule stützt, und darin den so entscheidend gebrauchten Bogen oder die Kithar hält, also ein Anapauomenos, den
1 Eine zu Argos gefundene Bronze von derselben Stellung und Bildung erwähnt Pouquev. Voy. T. 4. p. 161. Köpfe von großer Aehnlichkeit mit dem des Belved. Ap. kommen in mehrern Sammlungen vor, einer und der andere zeigt selbst noch großartigere Formen.
— nicht zwar mehr jene dem Werke des Kanachos zugeſchriebenen Zuͤge, aber doch ganz andere als die beruͤhmteſten der erhaltenen Statuen, breitere Wangen, eine kuͤrzere und ſtaͤrkere Naſe, uͤberhaupt ſolche Formen, die die Alten quadrat nennen, darlegen. Erſt in den Zeiten der Skopas, Leochares, Praxiteles, Timarchi- des, iſt jener Apoll entſtanden, den man einen Zwil- lingsbruder der Venus nennen kann, zu ſo taͤuſchender Naͤhe kommen ſich bisweilen die Zuͤge beider Gotthei- ten; auch der Ausdruck von Begeiſterung und Ekſtaſe, den mehrere der trefflichſten Bilder zeigen, kann wohl erſt aus der Schule des erſtgenannten Meiſters abge- leitet werden, da die fruͤheren mehr ruhige und wan- delloſe Seelenzuſtaͤnde als voruͤbergehende Gemuͤthsbe- wegungen zum Vorwurf ihrer Kunſt machten. Aber der feine Sinn und das richtige Gefuͤhl, womit dieſe Kuͤnſtler den Ausdruck einer Seelenerhebung ohne Be- rauſchung und der Begeiſterung ohne Ueberſpannung auszudruͤcken wußten, iſt der hoͤchſten Bewunderung werth. Ohne in die einzelnen Schoͤpfungen dieſer und der folgenden Kuͤnſtler einzugehn, worauf wir oben ſchon verzichteten, geben wir nur im Allgemeinen an, wie ſich die vorhandenen Werke am beſten in Claſſen ordnen. Fuͤr ſich allein ſteht der Kallinikos von Bel- vedere, in dem Siegerſtolz vorherrſcht 1; dann folgt der vom Kampfe ausruhende, der den rechten Arm uͤber das Haupt ſchmiegt, den linken auf eine Saͤule ſtuͤtzt, und darin den ſo entſcheidend gebrauchten Bogen oder die Kithar haͤlt, alſo ein Anapauomenos, den
1 Eine zu Argos gefundene Bronze von derſelben Stellung und Bildung erwaͤhnt Pouquev. Voy. T. 4. p. 161. Koͤpfe von großer Aehnlichkeit mit dem des Belved. Ap. kommen in mehrern Sammlungen vor, einer und der andere zeigt ſelbſt noch großartigere Formen.
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— nicht zwar mehr jene dem Werke des Kanachos
zugeſchriebenen Zuͤge, aber doch ganz andere als die
beruͤhmteſten der erhaltenen Statuen, breitere Wangen,
eine kuͤrzere und ſtaͤrkere Naſe, uͤberhaupt ſolche Formen,
die die Alten quadrat nennen, darlegen. Erſt in den
Zeiten der Skopas, Leochares, Praxiteles, Timarchi-
des, iſt jener Apoll entſtanden, den man einen Zwil-
lingsbruder der Venus nennen kann, zu ſo taͤuſchender
Naͤhe kommen ſich bisweilen die Zuͤge beider Gotthei-
ten; auch der Ausdruck von Begeiſterung und Ekſtaſe,
den mehrere der trefflichſten Bilder zeigen, kann wohl
erſt aus der Schule des erſtgenannten Meiſters abge-
leitet werden, da die fruͤheren mehr ruhige und wan-
delloſe Seelenzuſtaͤnde als voruͤbergehende Gemuͤthsbe-
wegungen zum Vorwurf ihrer Kunſt machten. Aber
der feine Sinn und das richtige Gefuͤhl, womit dieſe
Kuͤnſtler den Ausdruck einer Seelenerhebung ohne Be-
rauſchung und der Begeiſterung ohne Ueberſpannung
auszudruͤcken wußten, iſt der hoͤchſten Bewunderung
werth. Ohne in die einzelnen Schoͤpfungen dieſer und
der folgenden Kuͤnſtler einzugehn, worauf wir oben
ſchon verzichteten, geben wir nur im Allgemeinen an,
wie ſich die vorhandenen Werke am beſten in Claſſen
ordnen. Fuͤr ſich allein ſteht der Kallinikos von Bel-
vedere, in dem Siegerſtolz vorherrſcht 1; dann folgt
der vom Kampfe ausruhende, der den rechten Arm
uͤber das Haupt ſchmiegt, den linken auf eine Saͤule
ſtuͤtzt, und darin den ſo entſcheidend gebrauchten Bogen
oder die Kithar haͤlt, alſo ein Anapauomenos, den
1 Eine zu Argos gefundene Bronze von derſelben
Stellung und Bildung erwaͤhnt Pouquev. Voy. T. 4. p. 161.
Koͤpfe von großer Aehnlichkeit mit dem des Belved. Ap. kommen
in mehrern Sammlungen vor, einer und der andere zeigt ſelbſt
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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/392>, abgerufen am 22.11.2024.
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