zu haben. Aus den gewesenen Kosmen wurde der hohe Rath gewählt, nicht so, daß ein jeder Kosmos sofort zu demselben gehörte -- wie in Athen seit So- lon jeder Archont, wenn nicht Klage gegen ihn erho- ben wurde, zum Areopag einging -- sondern so, daß aus der Zahl der gewesenen Kosmen die Geronten nach neuer Prüfung ausgelesen wurden. Denn die Zahl der letztern war sicher bestimmt, und nicht groß genug um alle Kosmen aufzunehmen.
2.
Zu Aristoteles Zeit hatte die Gewalt der Kos- men ein tyrannisches Ansehn gewonnen. Die Zahl der Geschlechter, aus welchen sie gewählt wurden, hatte sich mit der Zeit zusammengezogen; die einzelnen Fa- milien hatten unmittelbaren Einfluß auf die Staats- leitung erhalten, und ihre Zwiste waren Partheiungen für das Ganze geworden. Dadurch war die Verfas- sung in eine Geschlechterdynastie ausgeartet, indem das demokratische Element, die Volksversammlung, an sich zu schwach und zu wenig vertreten war, um dieser Zaum anzulegen. Dazu kam in einer Zeit, welche vor dem alten Rechte nicht mehr die frühere Scheu hatte, der Mangel geschriebener Gesetze. Wenn mächtige Fa- milien den Ausgang eines Rechtsstreits fürchteten, so verhinderten sie die Wahl der Kosmen, und es trat eine akosmia ein 1, in welcher die vornehmsten Ge- schlechter mit ihren Anhängern sich feindlich bekriegten. Dieser Zustand war damals wenigstens in mehreren Hauptstädten Kreta's eingerissen; zur Zeit indeß, als das noch erhaltene Bündniß der Priansier und Hiera- pytnier abgefaßt wurde, scheinen die Verhältnisse wie-
1 Diesen Sinn fordert der Zusammenhang von Aristot. Pol. 2, 7, 7.; so daß zu ton dunaton - tines zu suppliren oder zu er- gänzen ist.
zu haben. Aus den geweſenen Kosmen wurde der hohe Rath gewaͤhlt, nicht ſo, daß ein jeder Kosmos ſofort zu demſelben gehoͤrte — wie in Athen ſeit So- lon jeder Archont, wenn nicht Klage gegen ihn erho- ben wurde, zum Areopag einging — ſondern ſo, daß aus der Zahl der geweſenen Kosmen die Geronten nach neuer Pruͤfung ausgeleſen wurden. Denn die Zahl der letztern war ſicher beſtimmt, und nicht groß genug um alle Kosmen aufzunehmen.
2.
Zu Ariſtoteles Zeit hatte die Gewalt der Kos- men ein tyranniſches Anſehn gewonnen. Die Zahl der Geſchlechter, aus welchen ſie gewaͤhlt wurden, hatte ſich mit der Zeit zuſammengezogen; die einzelnen Fa- milien hatten unmittelbaren Einfluß auf die Staats- leitung erhalten, und ihre Zwiſte waren Partheiungen fuͤr das Ganze geworden. Dadurch war die Verfaſ- ſung in eine Geſchlechterdynaſtie ausgeartet, indem das demokratiſche Element, die Volksverſammlung, an ſich zu ſchwach und zu wenig vertreten war, um dieſer Zaum anzulegen. Dazu kam in einer Zeit, welche vor dem alten Rechte nicht mehr die fruͤhere Scheu hatte, der Mangel geſchriebener Geſetze. Wenn maͤchtige Fa- milien den Ausgang eines Rechtsſtreits fuͤrchteten, ſo verhinderten ſie die Wahl der Kosmen, und es trat eine ἀκοσμία ein 1, in welcher die vornehmſten Ge- ſchlechter mit ihren Anhaͤngern ſich feindlich bekriegten. Dieſer Zuſtand war damals wenigſtens in mehreren Hauptſtaͤdten Kreta’s eingeriſſen; zur Zeit indeß, als das noch erhaltene Buͤndniß der Prianſier und Hiera- pytnier abgefaßt wurde, ſcheinen die Verhaͤltniſſe wie-
1 Dieſen Sinn fordert der Zuſammenhang von Ariſtot. Pol. 2, 7, 7.; ſo daß zu τῶν δυνατῶν ‒ τινὲς zu ſuppliren oder zu er- gaͤnzen iſt.
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zu haben. Aus den geweſenen Kosmen wurde der
hohe Rath gewaͤhlt, nicht ſo, daß ein jeder Kosmos
ſofort zu demſelben gehoͤrte — wie in Athen ſeit So-
lon jeder Archont, wenn nicht Klage gegen ihn erho-
ben wurde, zum Areopag einging — ſondern ſo, daß
aus der Zahl der geweſenen Kosmen die Geronten nach
neuer Pruͤfung ausgeleſen wurden. Denn die Zahl
der letztern war ſicher beſtimmt, und nicht groß genug
um alle Kosmen aufzunehmen.
2.
Zu Ariſtoteles Zeit hatte die Gewalt der Kos-
men ein tyranniſches Anſehn gewonnen. Die Zahl der
Geſchlechter, aus welchen ſie gewaͤhlt wurden, hatte
ſich mit der Zeit zuſammengezogen; die einzelnen Fa-
milien hatten unmittelbaren Einfluß auf die Staats-
leitung erhalten, und ihre Zwiſte waren Partheiungen
fuͤr das Ganze geworden. Dadurch war die Verfaſ-
ſung in eine Geſchlechterdynaſtie ausgeartet, indem das
demokratiſche Element, die Volksverſammlung, an ſich
zu ſchwach und zu wenig vertreten war, um dieſer
Zaum anzulegen. Dazu kam in einer Zeit, welche vor
dem alten Rechte nicht mehr die fruͤhere Scheu hatte,
der Mangel geſchriebener Geſetze. Wenn maͤchtige Fa-
milien den Ausgang eines Rechtsſtreits fuͤrchteten, ſo
verhinderten ſie die Wahl der Kosmen, und es trat
eine ἀκοσμία ein 1, in welcher die vornehmſten Ge-
ſchlechter mit ihren Anhaͤngern ſich feindlich bekriegten.
Dieſer Zuſtand war damals wenigſtens in mehreren
Hauptſtaͤdten Kreta’s eingeriſſen; zur Zeit indeß, als
das noch erhaltene Buͤndniß der Prianſier und Hiera-
pytnier abgefaßt wurde, ſcheinen die Verhaͤltniſſe wie-
1 Dieſen Sinn fordert der Zuſammenhang von Ariſtot. Pol.
2, 7, 7.; ſo daß zu τῶν δυνατῶν ‒ τινὲς zu ſuppliren oder zu er-
gaͤnzen iſt.
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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/139>, abgerufen am 21.11.2024.
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