Panteus die Lippen seines sterbenden Freundes Kleo- menes selbst sterbend mit einem Kusse schloß.
8.
Es ist klar, daß eine solche das ganze Leben durchdringende Sitte kaum aus irgend einer einzelnen Ueberlegung hervorgegangen sein kann: sie muß auf einer dem Volksstamme von Anfang an natürlichen Empfindung beruhn. Diese lebhafte Zuneigung von Männern zu Knaben, dies innige Anschließen, das jene zu zweiten Vätern dieser macht, muß tiefer wurzeln als auf einem einzelnen Institute. -- Daß nun diese Empfindung nicht blos geistig, daß sie auch sinnlich war, ein Gefallen an äußerer Schönheit und Blüthe, an gymnastischer Bildung 1, an der Jugend in vollem Begriffe, war durchaus nothwendig in einer körperli- ches und geistiges Dasein noch wenig zu trennen ge- wohnten Zeit. Aber eine ganz andre Frage ist, ob diese in Kreta und Sparta allgemeine, von den Edel- sten gepflegte, von den Gesetzgebern auf alle Weise un- terstützte, in die Jugendbildung so tief eingreifende Knabenliebe -- das mit demselben Namen benannte La- ster gewesen sei.
Man bedenke wohl, was es heißt, diese Frage mit Aristoteles zu bejahen, der sogar die Absicht des Ge- setzgebers -- übermäßiger Bevölkerung zu steuern -- darin erblickt 2. So schnöde Sünde, nicht einzeln in
ein Attiker, s. Welcker: Sappho von einem u. s. w. S. 39. -- Die Tarentiner nannten nach Hesych den eromenon erotion.
1 Nach Platon Ges. 1, 636 b. Cic. Tusc. Qu. 4, 34. vgl. Böckh. ad legg. p. 106. ging die Knabenliebe aus den Gy- mnasien hervor: was indeß, in dieser Allgemeinheit gesagt, wenig Probabilität hat.
2 Pol. 2, 7, 5. -- Aber es ist schon falsch und gilt nur von Athen, nicht von den Doriern, daß die
Panteus die Lippen ſeines ſterbenden Freundes Kleo- menes ſelbſt ſterbend mit einem Kuſſe ſchloß.
8.
Es iſt klar, daß eine ſolche das ganze Leben durchdringende Sitte kaum aus irgend einer einzelnen Ueberlegung hervorgegangen ſein kann: ſie muß auf einer dem Volksſtamme von Anfang an natuͤrlichen Empfindung beruhn. Dieſe lebhafte Zuneigung von Maͤnnern zu Knaben, dies innige Anſchließen, das jene zu zweiten Vaͤtern dieſer macht, muß tiefer wurzeln als auf einem einzelnen Inſtitute. — Daß nun dieſe Empfindung nicht blos geiſtig, daß ſie auch ſinnlich war, ein Gefallen an aͤußerer Schoͤnheit und Bluͤthe, an gymnaſtiſcher Bildung 1, an der Jugend in vollem Begriffe, war durchaus nothwendig in einer koͤrperli- ches und geiſtiges Daſein noch wenig zu trennen ge- wohnten Zeit. Aber eine ganz andre Frage iſt, ob dieſe in Kreta und Sparta allgemeine, von den Edel- ſten gepflegte, von den Geſetzgebern auf alle Weiſe un- terſtuͤtzte, in die Jugendbildung ſo tief eingreifende Knabenliebe — das mit demſelben Namen benannte La- ſter geweſen ſei.
Man bedenke wohl, was es heißt, dieſe Frage mit Ariſtoteles zu bejahen, der ſogar die Abſicht des Ge- ſetzgebers — uͤbermaͤßiger Bevoͤlkerung zu ſteuern — darin erblickt 2. So ſchnoͤde Suͤnde, nicht einzeln in
ein Attiker, ſ. Welcker: Sappho von einem u. ſ. w. S. 39. — Die Tarentiner nannten nach Heſych den ἐϱώμενον ἐϱώτιον.
1 Nach Platon Geſ. 1, 636 b. Cic. Tusc. Qu. 4, 34. vgl. Boͤckh. ad legg. p. 106. ging die Knabenliebe aus den Gy- mnaſien hervor: was indeß, in dieſer Allgemeinheit geſagt, wenig Probabilitaͤt hat.
2 Pol. 2, 7, 5. — Aber es iſt ſchon falſch und gilt nur von Athen, nicht von den Doriern, daß die
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Panteus die Lippen ſeines ſterbenden Freundes Kleo-
menes ſelbſt ſterbend mit einem Kuſſe ſchloß.
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Es iſt klar, daß eine ſolche das ganze Leben
durchdringende Sitte kaum aus irgend einer einzelnen
Ueberlegung hervorgegangen ſein kann: ſie muß auf
einer dem Volksſtamme von Anfang an natuͤrlichen
Empfindung beruhn. Dieſe lebhafte Zuneigung von
Maͤnnern zu Knaben, dies innige Anſchließen, das jene
zu zweiten Vaͤtern dieſer macht, muß tiefer wurzeln
als auf einem einzelnen Inſtitute. — Daß nun dieſe
Empfindung nicht blos geiſtig, daß ſie auch ſinnlich
war, ein Gefallen an aͤußerer Schoͤnheit und Bluͤthe,
an gymnaſtiſcher Bildung 1, an der Jugend in vollem
Begriffe, war durchaus nothwendig in einer koͤrperli-
ches und geiſtiges Daſein noch wenig zu trennen ge-
wohnten Zeit. Aber eine ganz andre Frage iſt, ob
dieſe in Kreta und Sparta allgemeine, von den Edel-
ſten gepflegte, von den Geſetzgebern auf alle Weiſe un-
terſtuͤtzte, in die Jugendbildung ſo tief eingreifende
Knabenliebe — das mit demſelben Namen benannte La-
ſter geweſen ſei.
Man bedenke wohl, was es heißt, dieſe Frage mit
Ariſtoteles zu bejahen, der ſogar die Abſicht des Ge-
ſetzgebers — uͤbermaͤßiger Bevoͤlkerung zu ſteuern —
darin erblickt 2. So ſchnoͤde Suͤnde, nicht einzeln in
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1 Nach Platon Geſ. 1, 636 b. Cic. Tusc. Qu. 4, 34.
vgl. Boͤckh. ad legg. p. 106. ging die Knabenliebe aus den Gy-
mnaſien hervor: was indeß, in dieſer Allgemeinheit geſagt, wenig
Probabilitaͤt hat.
2 Pol. 2, 7, 5. — Aber es iſt ſchon
falſch und gilt nur von Athen, nicht von den Doriern, daß die
4 ein Attiker, ſ. Welcker: Sappho von einem u. ſ. w. S. 39. — Die
Tarentiner nannten nach Heſych den ἐϱώμενον ἐϱώτιον.
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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/300>, abgerufen am 22.11.2024.
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