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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824.

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scheuem Dunkel geübt, sondern als allgemeine Natio-
nalsitte, und das in dem gesündesten, kräftigsten Stam-
me Hellenischer Nation, ein Jahrtausend hindurch, wä-
re eine schaudervolle Billigung der Unnatur durch die
Natur. Wir wollen dieser physischen Unmöglichkeit
kaum erst die moralische, fortdauernder Sophrosyne bei
so vergifteter Sitte, hinzufügen -- aus Vertrauen auf die
Vernunft jedes Beurtheilers.

Können wir sonach nicht annehmen, daß die alte
Nationalsitte des Dorischen Stammes ein so unreines
Verhältniß als zur Erziehung des Knaben nothwendig
gesetzt habe -- und doch müßten wir dies, wenn wir
die verschiednen Begriffe der Knabenliebe für von je-
her verbunden und zusammengehörig hielten: so wer-
den wir auf das direkt entgegengesetzte Ergebniß ge-
führt. Nämlich: wenn die alten Hellenen, als diese
Kretisch-Spartiatische Knabenliebe sich bildete, auf
keine Knabenschänderei hinauswollten: so mußte letztre
überhaupt nicht in ihrem ethischen Gefichtskreis liegen,
ihnen wenigstens keiner Verwechslung mit der erstern
ausgesetzt scheinen, weil sie diese sonst unmöglich mit
solcher Arglosigkeit, Unschuld, Unbefangenheit gestaltet
und ausgebildet hätten. Sehr passend hat Welcker 1
darauf aufmerksam gemacht, daß bei einfachen, altvä-
terlichen Völkern beschränkten Gesichtskreises auch sonst
die Sitte manche Freiheiten einräumt, die bei entar-
teten und unruhig bewegten die Strenge des Gesetzes
untersagen muß. Und mehr bestärkt in der That als
irre gemacht werden wir in dieser Vorstellung durch
Ciceros Aussage, daß die Lakedämonier den Liebenden

Knabenliebe im umgekehrten Verhältniß gestanden mit
der Liebe zum weiblichen Geschlecht
.
1 a. O. S. 41.

ſcheuem Dunkel geuͤbt, ſondern als allgemeine Natio-
nalſitte, und das in dem geſuͤndeſten, kraͤftigſten Stam-
me Helleniſcher Nation, ein Jahrtauſend hindurch, waͤ-
re eine ſchaudervolle Billigung der Unnatur durch die
Natur. Wir wollen dieſer phyſiſchen Unmoͤglichkeit
kaum erſt die moraliſche, fortdauernder Sophroſyne bei
ſo vergifteter Sitte, hinzufuͤgen — aus Vertrauen auf die
Vernunft jedes Beurtheilers.

Koͤnnen wir ſonach nicht annehmen, daß die alte
Nationalſitte des Doriſchen Stammes ein ſo unreines
Verhaͤltniß als zur Erziehung des Knaben nothwendig
geſetzt habe — und doch muͤßten wir dies, wenn wir
die verſchiednen Begriffe der Knabenliebe fuͤr von je-
her verbunden und zuſammengehoͤrig hielten: ſo wer-
den wir auf das direkt entgegengeſetzte Ergebniß ge-
fuͤhrt. Naͤmlich: wenn die alten Hellenen, als dieſe
Kretiſch-Spartiatiſche Knabenliebe ſich bildete, auf
keine Knabenſchaͤnderei hinauswollten: ſo mußte letztre
uͤberhaupt nicht in ihrem ethiſchen Gefichtskreis liegen,
ihnen wenigſtens keiner Verwechſlung mit der erſtern
ausgeſetzt ſcheinen, weil ſie dieſe ſonſt unmoͤglich mit
ſolcher Argloſigkeit, Unſchuld, Unbefangenheit geſtaltet
und ausgebildet haͤtten. Sehr paſſend hat Welcker 1
darauf aufmerkſam gemacht, daß bei einfachen, altvaͤ-
terlichen Voͤlkern beſchraͤnkten Geſichtskreiſes auch ſonſt
die Sitte manche Freiheiten einraͤumt, die bei entar-
teten und unruhig bewegten die Strenge des Geſetzes
unterſagen muß. Und mehr beſtaͤrkt in der That als
irre gemacht werden wir in dieſer Vorſtellung durch
Ciceros Ausſage, daß die Lakedaͤmonier den Liebenden

Knabenliebe im umgekehrten Verhaͤltniß geſtanden mit
der Liebe zum weiblichen Geſchlecht
.
1 a. O. S. 41.
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[295/0301] ſcheuem Dunkel geuͤbt, ſondern als allgemeine Natio- nalſitte, und das in dem geſuͤndeſten, kraͤftigſten Stam- me Helleniſcher Nation, ein Jahrtauſend hindurch, waͤ- re eine ſchaudervolle Billigung der Unnatur durch die Natur. Wir wollen dieſer phyſiſchen Unmoͤglichkeit kaum erſt die moraliſche, fortdauernder Sophroſyne bei ſo vergifteter Sitte, hinzufuͤgen — aus Vertrauen auf die Vernunft jedes Beurtheilers. Koͤnnen wir ſonach nicht annehmen, daß die alte Nationalſitte des Doriſchen Stammes ein ſo unreines Verhaͤltniß als zur Erziehung des Knaben nothwendig geſetzt habe — und doch muͤßten wir dies, wenn wir die verſchiednen Begriffe der Knabenliebe fuͤr von je- her verbunden und zuſammengehoͤrig hielten: ſo wer- den wir auf das direkt entgegengeſetzte Ergebniß ge- fuͤhrt. Naͤmlich: wenn die alten Hellenen, als dieſe Kretiſch-Spartiatiſche Knabenliebe ſich bildete, auf keine Knabenſchaͤnderei hinauswollten: ſo mußte letztre uͤberhaupt nicht in ihrem ethiſchen Gefichtskreis liegen, ihnen wenigſtens keiner Verwechſlung mit der erſtern ausgeſetzt ſcheinen, weil ſie dieſe ſonſt unmoͤglich mit ſolcher Argloſigkeit, Unſchuld, Unbefangenheit geſtaltet und ausgebildet haͤtten. Sehr paſſend hat Welcker 1 darauf aufmerkſam gemacht, daß bei einfachen, altvaͤ- terlichen Voͤlkern beſchraͤnkten Geſichtskreiſes auch ſonſt die Sitte manche Freiheiten einraͤumt, die bei entar- teten und unruhig bewegten die Strenge des Geſetzes unterſagen muß. Und mehr beſtaͤrkt in der That als irre gemacht werden wir in dieſer Vorſtellung durch Ciceros Ausſage, daß die Lakedaͤmonier den Liebenden 2 1 a. O. S. 41. 2 Knabenliebe im umgekehrten Verhaͤltniß geſtanden mit der Liebe zum weiblichen Geſchlecht.

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/301>, abgerufen am 21.11.2024.