wenn nun nach Aristoteles 1 einige Peloponnesier mit den Athenern um die Erfindung der Tragödie eifer- ten 2: so werden wir der ersten Partei nicht darum Unrecht geben, weil ihr Lied, von dem der andern übertönt, so zeitig verstummte. -- Nun fragt es sich aber, ob diese Sikyonische Tragödie das gewöhnlich so genannte Drama, oder blos eine Gattung (dithyram- bischer) Lyrik gewesen, deren Existenz vor einigen Jah- ren Böckh aus Böotischen Inschriften und andern Spuren ans Licht gebracht 3. Ich meine mit dem genannten Alterthumsforscher: das letztre -- weil nur dann die Nachrichten der Athener über den Ursprung und Bildungsgang ihrer eignen Tragödie sich rechtfer- tigen lassen, und weil bestimmt berichtet wird, daß die gesammte ältre Tragödie blos aus Chören bestan- den habe 4. Nur möchte ich deswegen diesen Bakchi- schen Festliedern nicht das mimische Element abstreiten, was im Wesen des Cultus von Anfang an lag; die Lebhaftigkeit des Gefühls forderte Leibhaftigkeit der Darstellung; und schon Arion, der auch als Erfinder der tragischen Weise (tragikos tropos) genannt wird, soll dem Chore Satyrn zugesellt haben 5. -- Arion, obgleich ein Methymnäer und wahrscheinlich aus Ter- panders Schule, lebte und dichtete doch meist, wie sein eben genannter Vorgänger, im Peloponnes und unter Doriern. In Korinth war es, wo er unter Pe-
1 Poet. 3. und Hermann zur Stelle p. 104. Wilh. Schnei- der's Einwürfe de origg. trag. Gr. p. 21 sq. lassen sich wohl nach der oben aufgestellten Ansicht beseitigen.
2 Specieller von den Sikyoniern, daß sie die Trag. erfunden, Themist. Or. 19. p. 487.
3 Staatshaush. 2. S. 362.
4 Besonders Aristokles bei Athen 14, 630 c.
5 Suid. s. v. Arion.
wenn nun nach Ariſtoteles 1 einige Peloponneſier mit den Athenern um die Erfindung der Tragoͤdie eifer- ten 2: ſo werden wir der erſten Partei nicht darum Unrecht geben, weil ihr Lied, von dem der andern uͤbertoͤnt, ſo zeitig verſtummte. — Nun fragt es ſich aber, ob dieſe Sikyoniſche Tragoͤdie das gewoͤhnlich ſo genannte Drama, oder blos eine Gattung (dithyram- biſcher) Lyrik geweſen, deren Exiſtenz vor einigen Jah- ren Boͤckh aus Boͤotiſchen Inſchriften und andern Spuren ans Licht gebracht 3. Ich meine mit dem genannten Alterthumsforſcher: das letztre — weil nur dann die Nachrichten der Athener uͤber den Urſprung und Bildungsgang ihrer eignen Tragoͤdie ſich rechtfer- tigen laſſen, und weil beſtimmt berichtet wird, daß die geſammte aͤltre Tragoͤdie blos aus Choͤren beſtan- den habe 4. Nur moͤchte ich deswegen dieſen Bakchi- ſchen Feſtliedern nicht das mimiſche Element abſtreiten, was im Weſen des Cultus von Anfang an lag; die Lebhaftigkeit des Gefuͤhls forderte Leibhaftigkeit der Darſtellung; und ſchon Arion, der auch als Erfinder der tragiſchen Weiſe (τραγικὸς τρόπος) genannt wird, ſoll dem Chore Satyrn zugeſellt haben 5. — Arion, obgleich ein Methymnaͤer und wahrſcheinlich aus Ter- panders Schule, lebte und dichtete doch meiſt, wie ſein eben genannter Vorgaͤnger, im Peloponnes und unter Doriern. In Korinth war es, wo er unter Pe-
1 Poet. 3. und Hermann zur Stelle p. 104. Wilh. Schnei- der’s Einwuͤrfe de origg. trag. Gr. p. 21 sq. laſſen ſich wohl nach der oben aufgeſtellten Anſicht beſeitigen.
2 Specieller von den Sikyoniern, daß ſie die Trag. erfunden, Themiſt. Or. 19. p. 487.
3 Staatshaush. 2. S. 362.
4 Beſonders Ariſtokles bei Athen 14, 630 c.
5 Suid. s. v. Ἀϱίων.
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Unrecht geben, weil ihr Lied, von dem der andern
uͤbertoͤnt, ſo zeitig verſtummte. — Nun fragt es ſich
aber, ob dieſe Sikyoniſche Tragoͤdie das gewoͤhnlich ſo
genannte Drama, oder blos eine Gattung (dithyram-
biſcher) Lyrik geweſen, deren Exiſtenz vor einigen Jah-
ren Boͤckh aus Boͤotiſchen Inſchriften und andern
Spuren ans Licht gebracht 3. Ich meine mit dem
genannten Alterthumsforſcher: das letztre — weil nur
dann die Nachrichten der Athener uͤber den Urſprung
und Bildungsgang ihrer eignen Tragoͤdie ſich rechtfer-
tigen laſſen, und weil beſtimmt berichtet wird, daß
die geſammte aͤltre Tragoͤdie blos aus Choͤren beſtan-
den habe 4. Nur moͤchte ich deswegen dieſen Bakchi-
ſchen Feſtliedern nicht das mimiſche Element abſtreiten,
was im Weſen des Cultus von Anfang an lag; die
Lebhaftigkeit des Gefuͤhls forderte Leibhaftigkeit der
Darſtellung; und ſchon Arion, der auch als Erfinder
der tragiſchen Weiſe (τραγικὸς τρόπος) genannt wird,
ſoll dem Chore Satyrn zugeſellt haben 5. — Arion,
obgleich ein Methymnaͤer und wahrſcheinlich aus Ter-
panders Schule, lebte und dichtete doch meiſt, wie
ſein eben genannter Vorgaͤnger, im Peloponnes und
unter Doriern. In Korinth war es, wo er unter Pe-
1 Poet. 3. und Hermann zur Stelle p. 104. Wilh. Schnei-
der’s Einwuͤrfe de origg. trag. Gr. p. 21 sq. laſſen ſich wohl
nach der oben aufgeſtellten Anſicht beſeitigen.
2 Specieller
von den Sikyoniern, daß ſie die Trag. erfunden, Themiſt. Or. 19.
p. 487.
3 Staatshaush. 2. S. 362.
4 Beſonders
Ariſtokles bei Athen 14, 630 c.
5 Suid. s. v. Ἀϱίων.
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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/374>, abgerufen am 26.11.2024.
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