Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_002.001 2. Dasjenige nun, was die Dichtkunst von den andern Künsten unterscheidet, pmu_002.025 pmu_002.001 2. Dasjenige nun, was die Dichtkunst von den andern Künsten unterscheidet, pmu_002.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0012" n="2"/><lb n="pmu_002.001"/> als Unterart des Spiels, sondern stellen die Kunst gleichberechtigt neben <lb n="pmu_002.002"/> das Spiel. Beide haben manches Gemeinsame, indessen sprechen wir <lb n="pmu_002.003"/> doch nur dort von Kunst, wo sich die menschliche Tätigkeit entweder schaffend <lb n="pmu_002.004"/> auf die Gestaltung eines Werkes richtet oder sich genießend an ein <lb n="pmu_002.005"/> solches Werk anschließt, was auf höheren Kulturstufen zur Trennung zwischen <lb n="pmu_002.006"/> Schaffenden und Genießenden geführt hat. Gemeinsam aber ist <lb n="pmu_002.007"/> allen ästhetischen Funktionen, daß sie eine notwendige Ergänzung des <lb n="pmu_002.008"/> praktischen Lebens sind, infolgendessen Lustgefühle erwecken und so unser <lb n="pmu_002.009"/> ganzes Lebensgefühl erhöhen und steigern. Da sie aber in der Regel <lb n="pmu_002.010"/> keinerlei praktische Zwecke verfolgen, so stehen sie außerhalb des gewöhnlichen <lb n="pmu_002.011"/> praktischen Lebenszusammenhanges, und daher rührt jene <hi rendition="#g">Losgelöstheit,</hi> <lb n="pmu_002.012"/> jenes <hi rendition="#g">Jnsichselberruhen</hi> aller ästhetischen Funktionen, das <lb n="pmu_002.013"/> man mit Kants Ausdruck gern als ihren „interesselosen“ Charakter bezeichnet. <lb n="pmu_002.014"/> Werke, die mit der Tendenz geschaffen sind, solche ästhetischen, d. h. von <lb n="pmu_002.015"/> äußern Jnteressen losgelösten, unsre Seele in harmonischer, das praktische <lb n="pmu_002.016"/> Leben ergänzender und daher lustbetonter Weise anregenden Erlebnisse <lb n="pmu_002.017"/> zu gewähren, nennen wir Kunstwerke. Dabei ist jedoch zu bemerken, daß <lb n="pmu_002.018"/> in der Realität jene prinzipielle Scheidung zwischen praktischen und <lb n="pmu_002.019"/> ästhetischen Funktionen, die wir oben gemacht haben, ganz rein sich nicht <lb n="pmu_002.020"/> immer machen läßt. Denn sehr oft läuft neben praktischen Tätigkeiten <lb n="pmu_002.021"/> auch eine gewisse ästhetische Befriedigung her, ebenso wie auch in der <lb n="pmu_002.022"/> künstlerischen Betätigung sehr häufig sich außerästhetische Elemente finden, <lb n="pmu_002.023"/> wovon unten genauer zu sprechen sein wird.</p> <lb n="pmu_002.024"/> </div> <div n="3"> <p> 2. Dasjenige nun, was die <hi rendition="#g">Dichtkunst</hi> von den andern Künsten unterscheidet, <lb n="pmu_002.025"/> ist der Umstand, daß das Mittel, durch das sie ästhetische Erlebnisse <lb n="pmu_002.026"/> überträgt, die <hi rendition="#g">Sprache</hi> ist. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß die <lb n="pmu_002.027"/> Sprache oft nur ein bloßes Mittel, nicht etwa das eigentliche Material <lb n="pmu_002.028"/> des ästhetischen Erlebnisses ist, wie das etwa in der Musik die Töne sind. <lb n="pmu_002.029"/> Die Sprache (als akustisches Phänomen) hat für die Poesie nicht im entferntesten <lb n="pmu_002.030"/> dieselbe Bedeutung wie die Töne für die Musik, vielmehr liegt <lb n="pmu_002.031"/> bei den meisten Dichtungen die eigentliche Bedeutung in den durch jenes <lb n="pmu_002.032"/> akustische Phänomen vermittelten Vorstellungen, Gefühlen, Affekten, <lb n="pmu_002.033"/> Willenserregungen, die in der Musik nur sekundär sind. Gewiß ist das <lb n="pmu_002.034"/> für alle Dichtungsarten nicht gleich. Jn der Lyrik spielt die Sprache als <lb n="pmu_002.035"/> akustisches Phänomen eine weitaus größere Rolle als im Roman. Jn <lb n="pmu_002.036"/> der Lyrik ist die Sprache meist viel mehr als bloßes Mittel. Aber dennoch <lb n="pmu_002.037"/> bleibt in der Sprache überall spürbar jener Dualismus zwischen der akustisch-motorischen <lb n="pmu_002.038"/> Seite und den „Bedeutungen“, d. h. allen jenen seelischen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [2/0012]
pmu_002.001
als Unterart des Spiels, sondern stellen die Kunst gleichberechtigt neben pmu_002.002
das Spiel. Beide haben manches Gemeinsame, indessen sprechen wir pmu_002.003
doch nur dort von Kunst, wo sich die menschliche Tätigkeit entweder schaffend pmu_002.004
auf die Gestaltung eines Werkes richtet oder sich genießend an ein pmu_002.005
solches Werk anschließt, was auf höheren Kulturstufen zur Trennung zwischen pmu_002.006
Schaffenden und Genießenden geführt hat. Gemeinsam aber ist pmu_002.007
allen ästhetischen Funktionen, daß sie eine notwendige Ergänzung des pmu_002.008
praktischen Lebens sind, infolgendessen Lustgefühle erwecken und so unser pmu_002.009
ganzes Lebensgefühl erhöhen und steigern. Da sie aber in der Regel pmu_002.010
keinerlei praktische Zwecke verfolgen, so stehen sie außerhalb des gewöhnlichen pmu_002.011
praktischen Lebenszusammenhanges, und daher rührt jene Losgelöstheit, pmu_002.012
jenes Jnsichselberruhen aller ästhetischen Funktionen, das pmu_002.013
man mit Kants Ausdruck gern als ihren „interesselosen“ Charakter bezeichnet. pmu_002.014
Werke, die mit der Tendenz geschaffen sind, solche ästhetischen, d. h. von pmu_002.015
äußern Jnteressen losgelösten, unsre Seele in harmonischer, das praktische pmu_002.016
Leben ergänzender und daher lustbetonter Weise anregenden Erlebnisse pmu_002.017
zu gewähren, nennen wir Kunstwerke. Dabei ist jedoch zu bemerken, daß pmu_002.018
in der Realität jene prinzipielle Scheidung zwischen praktischen und pmu_002.019
ästhetischen Funktionen, die wir oben gemacht haben, ganz rein sich nicht pmu_002.020
immer machen läßt. Denn sehr oft läuft neben praktischen Tätigkeiten pmu_002.021
auch eine gewisse ästhetische Befriedigung her, ebenso wie auch in der pmu_002.022
künstlerischen Betätigung sehr häufig sich außerästhetische Elemente finden, pmu_002.023
wovon unten genauer zu sprechen sein wird.
pmu_002.024
2. Dasjenige nun, was die Dichtkunst von den andern Künsten unterscheidet, pmu_002.025
ist der Umstand, daß das Mittel, durch das sie ästhetische Erlebnisse pmu_002.026
überträgt, die Sprache ist. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß die pmu_002.027
Sprache oft nur ein bloßes Mittel, nicht etwa das eigentliche Material pmu_002.028
des ästhetischen Erlebnisses ist, wie das etwa in der Musik die Töne sind. pmu_002.029
Die Sprache (als akustisches Phänomen) hat für die Poesie nicht im entferntesten pmu_002.030
dieselbe Bedeutung wie die Töne für die Musik, vielmehr liegt pmu_002.031
bei den meisten Dichtungen die eigentliche Bedeutung in den durch jenes pmu_002.032
akustische Phänomen vermittelten Vorstellungen, Gefühlen, Affekten, pmu_002.033
Willenserregungen, die in der Musik nur sekundär sind. Gewiß ist das pmu_002.034
für alle Dichtungsarten nicht gleich. Jn der Lyrik spielt die Sprache als pmu_002.035
akustisches Phänomen eine weitaus größere Rolle als im Roman. Jn pmu_002.036
der Lyrik ist die Sprache meist viel mehr als bloßes Mittel. Aber dennoch pmu_002.037
bleibt in der Sprache überall spürbar jener Dualismus zwischen der akustisch-motorischen pmu_002.038
Seite und den „Bedeutungen“, d. h. allen jenen seelischen
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |