Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_007.001 Nicht also etwa bloß der sprachliche Ausdruck ist als die Form in der pmu_007.016 Wenn besonders die moderne Ästhetik den Begriff der Form so oft zu pmu_007.032 pmu_007.001 Nicht also etwa bloß der sprachliche Ausdruck ist als die Form in der pmu_007.016 Wenn besonders die moderne Ästhetik den Begriff der Form so oft zu pmu_007.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0017" n="7"/><lb n="pmu_007.001"/> der Form im Sinne Platos. Für ihn war die wahre Form eben <lb n="pmu_007.002"/> „<foreign xml:lang="grc">εἶδος</foreign>“, die Jdee, das heißt das wahre Wesen der Dinge. Und ähnlich <lb n="pmu_007.003"/> faßt ja auch Aristoteles den Formbegriff als Gegensatz zur Materie (<foreign xml:lang="grc">ὕλη</foreign>). <lb n="pmu_007.004"/> Die Form ist ihm die inhaltlich durch das Wesen bestimmte Gestalt (<foreign xml:lang="grc">εἶδος</foreign>). <lb n="pmu_007.005"/> Jn diesem Sinne ist auch der Begriff des „Jdealismus“ zu verstehen, <lb n="pmu_007.006"/> also abzuleiten von dem Jdeenbegriff Platos oder des Aristoteles, nicht <lb n="pmu_007.007"/> etwa, wie es oft geschieht, so zu fassen, als würde eine Jdee im Sinne <lb n="pmu_007.008"/> eines abstrakten Gedankens verkörpert in dem idealisierenden Kunstwerk. <lb n="pmu_007.009"/> Wie schon Plato und Aristoteles erkannt hatten, hängt die Form zusammen <lb n="pmu_007.010"/> mit dem <hi rendition="#g">Gattungs</hi>mäßigen, dem <hi rendition="#g">Typischen,</hi> indem das <lb n="pmu_007.011"/> Jndividuelle stets als etwas Zufälliges erscheint (<foreign xml:lang="grc">συμβεβηκότα</foreign>). Daher <lb n="pmu_007.012"/> sehen wir denn auch, daß der idealisierende Künstler fast immer auf das <lb n="pmu_007.013"/> <hi rendition="#g">Typische</hi> hinarbeitet, während der Naturalist wie der Romantiker <hi rendition="#g">Einzelfälle</hi> <lb n="pmu_007.014"/> darstellen.</p> <lb n="pmu_007.015"/> <p> Nicht also etwa bloß der <hi rendition="#g">sprachliche</hi> Ausdruck ist als die Form in der <lb n="pmu_007.016"/> Dichtkunst zu verstehen, sondern der Begriff „Form“ muß auf alles, was <lb n="pmu_007.017"/> die Sprache vermittelt, ausgedehnt werden, und zwar ist die wahre Form <lb n="pmu_007.018"/> in der Dichtung die Schaffung von Jdeen im Sinne Platos, von <hi rendition="#g">Jdealen.</hi> <lb n="pmu_007.019"/> So meint Goethe es, wenn er vom Stil spricht, der „auf den tiefsten <lb n="pmu_007.020"/> Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge“ ruhe. (Einfache <lb n="pmu_007.021"/> Nachahmung der Natur, Manier, Stil.) So meint es auch Schiller, <lb n="pmu_007.022"/> wenn er lehrt, daß die wahre Kunst im Menschen „eine Kraft wecke, übe <lb n="pmu_007.023"/> und ausbilde, die sinnliche Welt, die sonst nur als ein roher Stoff auf uns <lb n="pmu_007.024"/> lastet, als eine blinde Macht auf uns drückt, in eine objektive Ferne zu <lb n="pmu_007.025"/> rücken, in ein freies Werk unsres Geistes zu verwandeln und das Materielle <lb n="pmu_007.026"/> durch Jdeen zu beherrschen“ (Über den Gebrauch des Chors in der <lb n="pmu_007.027"/> Tragödie). Form geben in der Kunst heißt also Jdealisieren im Sinne <lb n="pmu_007.028"/> des Herausarbeitens und Steigerns des Wesentlichen. Und in der Tat <lb n="pmu_007.029"/> sehen wir, daß die größten Künstler immer diesen Formbegriff bewußt <lb n="pmu_007.030"/> oder unbewußt in ihren Werken verwirklicht haben.</p> <lb n="pmu_007.031"/> <p> Wenn besonders die moderne Ästhetik den Begriff der Form so oft zu <lb n="pmu_007.032"/> äußerlich gefaßt hat, so ist sie dazu veranlaßt worden durch den starken <lb n="pmu_007.033"/> Einfluß, den die theoretische Poetik der Gegenwart durch die Theorie <lb n="pmu_007.034"/> der Musik und der bildenden Künste erfahren hat. Früher beeinflußte <lb n="pmu_007.035"/> die Poetik jene Künste und ihre Theorie, heute ist es umgekehrt. Jndem <lb n="pmu_007.036"/> man die Poesie nach Analogie der Musik erfassen wollte, kam man <lb n="pmu_007.037"/> zu jener falschen Auffassung der poetischen Form, die nur die sprachliche <lb n="pmu_007.038"/> Form gelten läßt. Das mag hingehen für manche Gebiete der Lyrik; </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [7/0017]
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der Form im Sinne Platos. Für ihn war die wahre Form eben pmu_007.002
„εἶδος“, die Jdee, das heißt das wahre Wesen der Dinge. Und ähnlich pmu_007.003
faßt ja auch Aristoteles den Formbegriff als Gegensatz zur Materie (ὕλη). pmu_007.004
Die Form ist ihm die inhaltlich durch das Wesen bestimmte Gestalt (εἶδος). pmu_007.005
Jn diesem Sinne ist auch der Begriff des „Jdealismus“ zu verstehen, pmu_007.006
also abzuleiten von dem Jdeenbegriff Platos oder des Aristoteles, nicht pmu_007.007
etwa, wie es oft geschieht, so zu fassen, als würde eine Jdee im Sinne pmu_007.008
eines abstrakten Gedankens verkörpert in dem idealisierenden Kunstwerk. pmu_007.009
Wie schon Plato und Aristoteles erkannt hatten, hängt die Form zusammen pmu_007.010
mit dem Gattungsmäßigen, dem Typischen, indem das pmu_007.011
Jndividuelle stets als etwas Zufälliges erscheint (συμβεβηκότα). Daher pmu_007.012
sehen wir denn auch, daß der idealisierende Künstler fast immer auf das pmu_007.013
Typische hinarbeitet, während der Naturalist wie der Romantiker Einzelfälle pmu_007.014
darstellen.
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Nicht also etwa bloß der sprachliche Ausdruck ist als die Form in der pmu_007.016
Dichtkunst zu verstehen, sondern der Begriff „Form“ muß auf alles, was pmu_007.017
die Sprache vermittelt, ausgedehnt werden, und zwar ist die wahre Form pmu_007.018
in der Dichtung die Schaffung von Jdeen im Sinne Platos, von Jdealen. pmu_007.019
So meint Goethe es, wenn er vom Stil spricht, der „auf den tiefsten pmu_007.020
Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge“ ruhe. (Einfache pmu_007.021
Nachahmung der Natur, Manier, Stil.) So meint es auch Schiller, pmu_007.022
wenn er lehrt, daß die wahre Kunst im Menschen „eine Kraft wecke, übe pmu_007.023
und ausbilde, die sinnliche Welt, die sonst nur als ein roher Stoff auf uns pmu_007.024
lastet, als eine blinde Macht auf uns drückt, in eine objektive Ferne zu pmu_007.025
rücken, in ein freies Werk unsres Geistes zu verwandeln und das Materielle pmu_007.026
durch Jdeen zu beherrschen“ (Über den Gebrauch des Chors in der pmu_007.027
Tragödie). Form geben in der Kunst heißt also Jdealisieren im Sinne pmu_007.028
des Herausarbeitens und Steigerns des Wesentlichen. Und in der Tat pmu_007.029
sehen wir, daß die größten Künstler immer diesen Formbegriff bewußt pmu_007.030
oder unbewußt in ihren Werken verwirklicht haben.
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Wenn besonders die moderne Ästhetik den Begriff der Form so oft zu pmu_007.032
äußerlich gefaßt hat, so ist sie dazu veranlaßt worden durch den starken pmu_007.033
Einfluß, den die theoretische Poetik der Gegenwart durch die Theorie pmu_007.034
der Musik und der bildenden Künste erfahren hat. Früher beeinflußte pmu_007.035
die Poetik jene Künste und ihre Theorie, heute ist es umgekehrt. Jndem pmu_007.036
man die Poesie nach Analogie der Musik erfassen wollte, kam man pmu_007.037
zu jener falschen Auffassung der poetischen Form, die nur die sprachliche pmu_007.038
Form gelten läßt. Das mag hingehen für manche Gebiete der Lyrik;
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