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Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.

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und formuliert: Kunst ist Natur, gesehen durch eine starke, große, erhabene pmu_009.002
Jndividualität.

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Gewiß gibt es sehr verschiedene Arten von Größe, aber über die Tatsache pmu_009.004
einer solchen ist selten ein Zweifel möglich. Es ist weniger wichtig, pmu_009.005
welcher Art die Gefühle und Gedanken sind, die den Dichter durchglühen, pmu_009.006
wenn sie ihn nur in tiefster Seele ergriffen haben und ihm die ganze Welt pmu_009.007
unter dieser inneren Ergriffenheit in neuem, großem, erhabenem Lichte pmu_009.008
erscheinen lassen. Darum ist es auch falsch, was der Ästhetizismus lehrt, pmu_009.009
daß der große Dichter "Kunst für die Kunst" schaffe. Es ist eine klar zu pmu_009.010
erweisende Tatsache, daß die ganz großen Dichter niemals "Ästheten" pmu_009.011
waren, daß sie vielmehr immer zu gleicher Zeit von religiösen, ethischen pmu_009.012
und andern Motiven geleitet wurden, ja daß diese ihnen oft im Vordergrund pmu_009.013
standen. Die große Dichtung entspringt stets aus solchen Tiefen pmu_009.014
der menschlichen Seele, wo ethisches, religiöses und ästhetisches Fühlen pmu_009.015
noch nicht geschieden sind. Daß uns, wenn wir heute Sophokles oder pmu_009.016
Dante lesen, die rein ästhetischen Seiten stärker interessieren, beweist pmu_009.017
gar nichts für die Tatsache, daß ästhetische Momente für den Dichter pmu_009.018
die einzigen Schaffensantriebe waren. -- Es kommt nur auf die Größe pmu_009.019
und Tiefe des Gefühls an, nicht auf die Art.

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Und darin liegt nun das Wunderbarste der echten Kunst, daß von dieser pmu_009.021
Subjektivität des großen Dichters eine so zwingende Gewalt ausgeht, pmu_009.022
daß wir alle das Leben mit seinen Augen sehen, größer, tiefer, erhabener. pmu_009.023
Während es der Romantiker im besten Falle zu einer absonderlichen, pmu_009.024
kuriosen Manier bringt, glauben wir in der klassischen Kunst die Natur pmu_009.025
selber zu sehen. Die klassische Kunst wirkt lebensteigernd, ohne der Natur pmu_009.026
zu entfremden.

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Das aber ist eben nur möglich, weil ihre Formgebung stets auf das pmu_009.028
Wesentliche geht. Jndem sie von allem Kleinlichen, Unbedeutenden abstrahiert, pmu_009.029
stets nur das Wesentliche herausarbeitet, erreicht sie es, daß die pmu_009.030
Menschen und Dinge größer und erhabener wirken und daß die dargestellte pmu_009.031
Welt tiefer und bedeutsamer scheint, als wir sie gewöhnlich sehen pmu_009.032
oder als der Naturalist sie zeigt, der alle Einzelheiten mitgibt. -- Ähnliches pmu_009.033
hat Hans von Marees für die bildende Kunst ausgesprochen.

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Dabei ist allerdings zu bemerken, daß es ein an sich Wesentliches der pmu_009.035
Dinge nicht gibt, wie die Scholastik annahm, daß vielmehr "wesentlich" pmu_009.036
stets etwas nur unter einem bestimmten Gesichtspunkte sein kann. Dieser pmu_009.037
einheitliche Gesichtspunkt aber, der über die Auswahl unter den Motiven pmu_009.038
entscheidet, ist stets die Persönlichkeit des Schöpfers. Man kann steigern

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und formuliert: Kunst ist Natur, gesehen durch eine starke, große, erhabene pmu_009.002
Jndividualität.

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Gewiß gibt es sehr verschiedene Arten von Größe, aber über die Tatsache pmu_009.004
einer solchen ist selten ein Zweifel möglich. Es ist weniger wichtig, pmu_009.005
welcher Art die Gefühle und Gedanken sind, die den Dichter durchglühen, pmu_009.006
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erscheinen lassen. Darum ist es auch falsch, was der Ästhetizismus lehrt, pmu_009.009
daß der große Dichter „Kunst für die Kunst“ schaffe. Es ist eine klar zu pmu_009.010
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waren, daß sie vielmehr immer zu gleicher Zeit von religiösen, ethischen pmu_009.012
und andern Motiven geleitet wurden, ja daß diese ihnen oft im Vordergrund pmu_009.013
standen. Die große Dichtung entspringt stets aus solchen Tiefen pmu_009.014
der menschlichen Seele, wo ethisches, religiöses und ästhetisches Fühlen pmu_009.015
noch nicht geschieden sind. Daß uns, wenn wir heute Sophokles oder pmu_009.016
Dante lesen, die rein ästhetischen Seiten stärker interessieren, beweist pmu_009.017
gar nichts für die Tatsache, daß ästhetische Momente für den Dichter pmu_009.018
die einzigen Schaffensantriebe waren. — Es kommt nur auf die Größe pmu_009.019
und Tiefe des Gefühls an, nicht auf die Art.

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Und darin liegt nun das Wunderbarste der echten Kunst, daß von dieser pmu_009.021
Subjektivität des großen Dichters eine so zwingende Gewalt ausgeht, pmu_009.022
daß wir alle das Leben mit seinen Augen sehen, größer, tiefer, erhabener. pmu_009.023
Während es der Romantiker im besten Falle zu einer absonderlichen, pmu_009.024
kuriosen Manier bringt, glauben wir in der klassischen Kunst die Natur pmu_009.025
selber zu sehen. Die klassische Kunst wirkt lebensteigernd, ohne der Natur pmu_009.026
zu entfremden.

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Das aber ist eben nur möglich, weil ihre Formgebung stets auf das pmu_009.028
Wesentliche geht. Jndem sie von allem Kleinlichen, Unbedeutenden abstrahiert, pmu_009.029
stets nur das Wesentliche herausarbeitet, erreicht sie es, daß die pmu_009.030
Menschen und Dinge größer und erhabener wirken und daß die dargestellte pmu_009.031
Welt tiefer und bedeutsamer scheint, als wir sie gewöhnlich sehen pmu_009.032
oder als der Naturalist sie zeigt, der alle Einzelheiten mitgibt. — Ähnliches pmu_009.033
hat Hans von Marées für die bildende Kunst ausgesprochen.

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Dabei ist allerdings zu bemerken, daß es ein an sich Wesentliches der pmu_009.035
Dinge nicht gibt, wie die Scholastik annahm, daß vielmehr „wesentlich“ pmu_009.036
stets etwas nur unter einem bestimmten Gesichtspunkte sein kann. Dieser pmu_009.037
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Zitationshilfe: Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_poetik_1914/19>, abgerufen am 03.12.2024.