Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_017.001 5. Was nun das Material unsrer Untersuchung anlangt, so ist oft die Behauptung pmu_017.018 pmu_017.001 5. Was nun das Material unsrer Untersuchung anlangt, so ist oft die Behauptung pmu_017.018 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0027" n="17"/><lb n="pmu_017.001"/> als die Handwerkerpoesie usw. Alle diese Spezialstile lassen sich <lb n="pmu_017.002"/> jedoch zurückführen auf die vier Hauptquellen, die wir oben nachgewiesen <lb n="pmu_017.003"/> haben. Nehmen wir z. B. den Zeitstil. Es ist offenbar, daß hier der Dichterstil <lb n="pmu_017.004"/> sehr wichtig ist, da gewisse Gemeinsamkeiten in Leben, Bildung, <lb n="pmu_017.005"/> Erziehung der Dichter, wie sie sich durch die Zugehörigkeit zu einer Epoche <lb n="pmu_017.006"/> ergeben, auch für ihren Stil von größter Bedeutung sind. Daneben hat <lb n="pmu_017.007"/> jede Epoche ihre ganz bestimmten Stoffe, die teils ihren besonderen historischen <lb n="pmu_017.008"/> und kulturellen Verhältnissen entnommen sind oder bestimmten <lb n="pmu_017.009"/> Jnteressen entgegenkommen. Ferner bevorzugen die einzelnen Zeitepochen <lb n="pmu_017.010"/> bestimmte Darstellungsarten. Einzelne pflegen ein Theater, <lb n="pmu_017.011"/> andre nicht. Einige singen ihre Lieder, andre lesen sie im Buche. Alles <lb n="pmu_017.012"/> das wirkt mit zur Ausbildung von Zeitstilen. Ebenso ist natürlich die <lb n="pmu_017.013"/> Sprache sehr wichtig, denn es ist offenbar, daß das Althochdeutsche ganz <lb n="pmu_017.014"/> andre Stilformen bedingte als die Sprache der Zeit Goethes. So können <lb n="pmu_017.015"/> wir im Stile jeder Epoche alle vier Quellen aufzeigen. Und in gleicher <lb n="pmu_017.016"/> Weise läßt sich das für den Nationalstil oder jede andre Stilgattung tun.</p> <lb n="pmu_017.017"/> </div> <div n="3"> <p> 5. Was nun das Material unsrer Untersuchung anlangt, so ist oft die Behauptung <lb n="pmu_017.018"/> erhoben worden, es müsse jeder Untersuchung der Art, wie wir <lb n="pmu_017.019"/> sie treiben, eine normative Wissenschaft zugrunde liegen, denn ästhetische <lb n="pmu_017.020"/> Erkenntnisse ließen sich nur aus ästhetischen Werten ableiten; um aber <lb n="pmu_017.021"/> ästhetische Werte zu erkennen, müsse man erst eine ästhetische Normwissenschaft <lb n="pmu_017.022"/> haben. Diese Behauptung ist nur zum Teil richtig. Gewiß lassen <lb n="pmu_017.023"/> sich ästhetische Erkenntnisse nur an ästhetischen Werten ableiten, diese aber <lb n="pmu_017.024"/> werden nicht erst durch eine Normwissenschaft erkannt, sondern sind uns <lb n="pmu_017.025"/> historisch gegeben. Dasjenige, was uns die empirische Literaturwissenschaft <lb n="pmu_017.026"/> als Werke von dichterischer Wirkungskraft sammelt, sind eben ästhetische <lb n="pmu_017.027"/> Werte. Diese setzen sich selber durch kraft ihrer eigenen Wirkungsfähigkeit, <lb n="pmu_017.028"/> nicht weil sie einer <hi rendition="#aq">a priori</hi> konstruierten Norm entsprächen. <lb n="pmu_017.029"/> Worin diese Wirkungsfähigkeit besteht, das theoretisch klarzulegen ist Aufgabe <lb n="pmu_017.030"/> der <hi rendition="#aq">a posteriori</hi> arbeitenden Poetik. Das heißt mit andern Worten, <lb n="pmu_017.031"/> unser Verfahren ist folgendes: Wir nehmen diejenigen Stilformen und <lb n="pmu_017.032"/> Werte, von denen uns die empirische Literaturgeschichte berichtet, daß <lb n="pmu_017.033"/> sie als ästhetische Werte am dauerndsten, breitesten und tiefsten gewirkt <lb n="pmu_017.034"/> haben, und wir suchen nun <hi rendition="#aq">a posteriori</hi> festzustellen, welche Eigenschaften <lb n="pmu_017.035"/> diese Wirkung bedingt haben und auf welchen psychologischen Bedingungen <lb n="pmu_017.036"/> diese Wirkung beruhen mag. Wir lehnen aber diejenige Methode als <lb n="pmu_017.037"/> unwissenschaftlich ab, die auf spekulativem Weg <hi rendition="#aq">a priori</hi> ästhetische Normen <lb n="pmu_017.038"/> konstruiert und danach das Kunstleben zu meistern sucht. Ästhetischer </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [17/0027]
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als die Handwerkerpoesie usw. Alle diese Spezialstile lassen sich pmu_017.002
jedoch zurückführen auf die vier Hauptquellen, die wir oben nachgewiesen pmu_017.003
haben. Nehmen wir z. B. den Zeitstil. Es ist offenbar, daß hier der Dichterstil pmu_017.004
sehr wichtig ist, da gewisse Gemeinsamkeiten in Leben, Bildung, pmu_017.005
Erziehung der Dichter, wie sie sich durch die Zugehörigkeit zu einer Epoche pmu_017.006
ergeben, auch für ihren Stil von größter Bedeutung sind. Daneben hat pmu_017.007
jede Epoche ihre ganz bestimmten Stoffe, die teils ihren besonderen historischen pmu_017.008
und kulturellen Verhältnissen entnommen sind oder bestimmten pmu_017.009
Jnteressen entgegenkommen. Ferner bevorzugen die einzelnen Zeitepochen pmu_017.010
bestimmte Darstellungsarten. Einzelne pflegen ein Theater, pmu_017.011
andre nicht. Einige singen ihre Lieder, andre lesen sie im Buche. Alles pmu_017.012
das wirkt mit zur Ausbildung von Zeitstilen. Ebenso ist natürlich die pmu_017.013
Sprache sehr wichtig, denn es ist offenbar, daß das Althochdeutsche ganz pmu_017.014
andre Stilformen bedingte als die Sprache der Zeit Goethes. So können pmu_017.015
wir im Stile jeder Epoche alle vier Quellen aufzeigen. Und in gleicher pmu_017.016
Weise läßt sich das für den Nationalstil oder jede andre Stilgattung tun.
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5. Was nun das Material unsrer Untersuchung anlangt, so ist oft die Behauptung pmu_017.018
erhoben worden, es müsse jeder Untersuchung der Art, wie wir pmu_017.019
sie treiben, eine normative Wissenschaft zugrunde liegen, denn ästhetische pmu_017.020
Erkenntnisse ließen sich nur aus ästhetischen Werten ableiten; um aber pmu_017.021
ästhetische Werte zu erkennen, müsse man erst eine ästhetische Normwissenschaft pmu_017.022
haben. Diese Behauptung ist nur zum Teil richtig. Gewiß lassen pmu_017.023
sich ästhetische Erkenntnisse nur an ästhetischen Werten ableiten, diese aber pmu_017.024
werden nicht erst durch eine Normwissenschaft erkannt, sondern sind uns pmu_017.025
historisch gegeben. Dasjenige, was uns die empirische Literaturwissenschaft pmu_017.026
als Werke von dichterischer Wirkungskraft sammelt, sind eben ästhetische pmu_017.027
Werte. Diese setzen sich selber durch kraft ihrer eigenen Wirkungsfähigkeit, pmu_017.028
nicht weil sie einer a priori konstruierten Norm entsprächen. pmu_017.029
Worin diese Wirkungsfähigkeit besteht, das theoretisch klarzulegen ist Aufgabe pmu_017.030
der a posteriori arbeitenden Poetik. Das heißt mit andern Worten, pmu_017.031
unser Verfahren ist folgendes: Wir nehmen diejenigen Stilformen und pmu_017.032
Werte, von denen uns die empirische Literaturgeschichte berichtet, daß pmu_017.033
sie als ästhetische Werte am dauerndsten, breitesten und tiefsten gewirkt pmu_017.034
haben, und wir suchen nun a posteriori festzustellen, welche Eigenschaften pmu_017.035
diese Wirkung bedingt haben und auf welchen psychologischen Bedingungen pmu_017.036
diese Wirkung beruhen mag. Wir lehnen aber diejenige Methode als pmu_017.037
unwissenschaftlich ab, die auf spekulativem Weg a priori ästhetische Normen pmu_017.038
konstruiert und danach das Kunstleben zu meistern sucht. Ästhetischer
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