Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_020.001 2. Welche Eigenschaften sind es zunächst, deren besondere Steigerung pmu_020.002 Was indessen kennzeichnet das dichterische Erleben? Das Wort "Erleben" pmu_020.013 Aber nicht die Fähigkeit intensiven Erlebens allein macht den Dichter. pmu_020.028 pmu_020.001 2. Welche Eigenschaften sind es zunächst, deren besondere Steigerung pmu_020.002 Was indessen kennzeichnet das dichterische Erleben? Das Wort „Erleben“ pmu_020.013 Aber nicht die Fähigkeit intensiven Erlebens allein macht den Dichter. pmu_020.028 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0030" n="20"/> <lb n="pmu_020.001"/> </div> <div n="3"> <p> 2. Welche Eigenschaften sind es zunächst, deren besondere Steigerung <lb n="pmu_020.002"/> die dichterische Fähigkeit verbürgen? Wir können hierauf vorläufig ganz <lb n="pmu_020.003"/> allgemein die Antwort geben: erstens die Fähigkeit eines besonders intensiven <lb n="pmu_020.004"/> oder auch besonders mannigfaltigen <hi rendition="#g">Erlebens</hi> und die Fähigkeit, <lb n="pmu_020.005"/> das Erlebte in suggestiver Form <hi rendition="#g">auszusprechen.</hi> Dabei sei aber <lb n="pmu_020.006"/> gleich bemerkt, daß nicht allen Dichtern beide Gaben in gleicher Weise <lb n="pmu_020.007"/> verliehen sind, sondern daß in der Regel nur die ganz Großen beide Fähigkeiten <lb n="pmu_020.008"/> in gleicher Vollendung aufweisen, während die Mehrzahl der Dichter <lb n="pmu_020.009"/> sich in zwei Typen sondern läßt, danach, ob sie mehr die Fähigkeit originellen <lb n="pmu_020.010"/> Erlebens oder mehr die einer gefälligen und suggestiven Mitteilung <lb n="pmu_020.011"/> haben.</p> <lb n="pmu_020.012"/> <p> Was indessen kennzeichnet das dichterische Erleben? Das Wort „Erleben“ <lb n="pmu_020.013"/> wird hier im weitesten Sinne gebraucht. Es kann sich um die Fähigkeit <lb n="pmu_020.014"/> des Wahrnehmens, des Affektlebens, Willenslebens oder Denklebens <lb n="pmu_020.015"/> handeln. Dabei ist es nun bekannt, daß Dichter seit alters eine <lb n="pmu_020.016"/> oder mehrere dieser Fähigkeiten in solcher Steigerung besitzen, daß sie <lb n="pmu_020.017"/> nicht immer mehr die Grenze des Normalen innehielten. Bald ist es eine <lb n="pmu_020.018"/> enorme Sensibilität, bald ein Unterworfensein unter bestimmte oder auch <lb n="pmu_020.019"/> alle Affekte, bald ist es eine besondere Lebhaftigkeit des denkenden Geistes, <lb n="pmu_020.020"/> die ihnen Erlebnisse von einer Wucht und Tiefe verschafft, wie sie <lb n="pmu_020.021"/> der Durchschnittsmensch nicht kennt. Es ist eine Jntensität des Erlebens, <lb n="pmu_020.022"/> das sich oft zu einem Erleiden steigert, jener „Gabe des Leids“, die Jbsens <lb n="pmu_020.023"/> Skalde als Quelle seiner Lieder nennt. Und zwar pflegt diese Fähigkeit <lb n="pmu_020.024"/> intensivsten Erlebens und Erleidens nicht nur auf die Erlebnisse der eigenen <lb n="pmu_020.025"/> Persönlichkeit sich zu erstrecken, sie dehnt sich auch aus auf fremdes, <lb n="pmu_020.026"/> bloß in der Vorstellung liegendes Erleben. — Davon indessen später.</p> <lb n="pmu_020.027"/> <p> Aber nicht die Fähigkeit intensiven Erlebens allein macht den Dichter. <lb n="pmu_020.028"/> Viele Menschen erleben und leiden mit höchster Jntensität, ohne daß ihnen <lb n="pmu_020.029"/> die Gabe ward, das in Dichtungen umzusetzen. Es muß dazu noch eine <lb n="pmu_020.030"/> besondere Gestaltungsfähigkeit kommen, eine Begabung, das eigene <lb n="pmu_020.031"/> Leben zu objektivieren, es umzusetzen in Gestalt, und zwar — wie es das <lb n="pmu_020.032"/> Wesen des Dichters ist — <hi rendition="#g">sprachliche</hi> Gestalt. Dieses Aussprechen aber <lb n="pmu_020.033"/> ist zugleich ein Beherrschen des Erlebnisses, eine Befreiung vom Leiden, <lb n="pmu_020.034"/> obwohl es bis zu einem gewissen Grade das Erleben zerstört. So ist die <lb n="pmu_020.035"/> Art des dichterischen Erlebens zu gleicher Zeit intensiv und wieder objektiviert. <lb n="pmu_020.036"/> So kann Th. Mann zu folgenden Sätzen über das Wesen des <lb n="pmu_020.037"/> dichterischen Schaffens gelangen: „Es ist nötig, daß man irgend etwas <lb n="pmu_020.038"/> Außermenschliches und Unmenschliches sei, daß man zum Menschlichen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [20/0030]
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2. Welche Eigenschaften sind es zunächst, deren besondere Steigerung pmu_020.002
die dichterische Fähigkeit verbürgen? Wir können hierauf vorläufig ganz pmu_020.003
allgemein die Antwort geben: erstens die Fähigkeit eines besonders intensiven pmu_020.004
oder auch besonders mannigfaltigen Erlebens und die Fähigkeit, pmu_020.005
das Erlebte in suggestiver Form auszusprechen. Dabei sei aber pmu_020.006
gleich bemerkt, daß nicht allen Dichtern beide Gaben in gleicher Weise pmu_020.007
verliehen sind, sondern daß in der Regel nur die ganz Großen beide Fähigkeiten pmu_020.008
in gleicher Vollendung aufweisen, während die Mehrzahl der Dichter pmu_020.009
sich in zwei Typen sondern läßt, danach, ob sie mehr die Fähigkeit originellen pmu_020.010
Erlebens oder mehr die einer gefälligen und suggestiven Mitteilung pmu_020.011
haben.
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Was indessen kennzeichnet das dichterische Erleben? Das Wort „Erleben“ pmu_020.013
wird hier im weitesten Sinne gebraucht. Es kann sich um die Fähigkeit pmu_020.014
des Wahrnehmens, des Affektlebens, Willenslebens oder Denklebens pmu_020.015
handeln. Dabei ist es nun bekannt, daß Dichter seit alters eine pmu_020.016
oder mehrere dieser Fähigkeiten in solcher Steigerung besitzen, daß sie pmu_020.017
nicht immer mehr die Grenze des Normalen innehielten. Bald ist es eine pmu_020.018
enorme Sensibilität, bald ein Unterworfensein unter bestimmte oder auch pmu_020.019
alle Affekte, bald ist es eine besondere Lebhaftigkeit des denkenden Geistes, pmu_020.020
die ihnen Erlebnisse von einer Wucht und Tiefe verschafft, wie sie pmu_020.021
der Durchschnittsmensch nicht kennt. Es ist eine Jntensität des Erlebens, pmu_020.022
das sich oft zu einem Erleiden steigert, jener „Gabe des Leids“, die Jbsens pmu_020.023
Skalde als Quelle seiner Lieder nennt. Und zwar pflegt diese Fähigkeit pmu_020.024
intensivsten Erlebens und Erleidens nicht nur auf die Erlebnisse der eigenen pmu_020.025
Persönlichkeit sich zu erstrecken, sie dehnt sich auch aus auf fremdes, pmu_020.026
bloß in der Vorstellung liegendes Erleben. — Davon indessen später.
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Aber nicht die Fähigkeit intensiven Erlebens allein macht den Dichter. pmu_020.028
Viele Menschen erleben und leiden mit höchster Jntensität, ohne daß ihnen pmu_020.029
die Gabe ward, das in Dichtungen umzusetzen. Es muß dazu noch eine pmu_020.030
besondere Gestaltungsfähigkeit kommen, eine Begabung, das eigene pmu_020.031
Leben zu objektivieren, es umzusetzen in Gestalt, und zwar — wie es das pmu_020.032
Wesen des Dichters ist — sprachliche Gestalt. Dieses Aussprechen aber pmu_020.033
ist zugleich ein Beherrschen des Erlebnisses, eine Befreiung vom Leiden, pmu_020.034
obwohl es bis zu einem gewissen Grade das Erleben zerstört. So ist die pmu_020.035
Art des dichterischen Erlebens zu gleicher Zeit intensiv und wieder objektiviert. pmu_020.036
So kann Th. Mann zu folgenden Sätzen über das Wesen des pmu_020.037
dichterischen Schaffens gelangen: „Es ist nötig, daß man irgend etwas pmu_020.038
Außermenschliches und Unmenschliches sei, daß man zum Menschlichen
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