Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_033.001 12. Als der am nächsten liegende Gegensatz stellte sich auf diesem Gebiete pmu_033.017 Auch in der Dichtkunst treten diese beiden Typen deutlich heraus. Und pmu_033.024 pmu_033.001 12. Als der am nächsten liegende Gegensatz stellte sich auf diesem Gebiete pmu_033.017 Auch in der Dichtkunst treten diese beiden Typen deutlich heraus. Und pmu_033.024 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0043" n="33"/><lb n="pmu_033.001"/> formenden Kunstverstandes. Ganz ohne diesen geht es natürlich <lb n="pmu_033.002"/> überhaupt nicht ab. Es ist ein törichter Jrrtum mancher gefühlsseliger <lb n="pmu_033.003"/> Theoretiker, als sei es ein Kennzeichen der echten Poesie, daß sie ohne <lb n="pmu_033.004"/> jede Verstandeshilfe, bloß aus der Tiefe des Gefühls hervorgebrochen sei. <lb n="pmu_033.005"/> Erstens gibt es wohl kaum große Kunstwerke, die ohne Verstandesbeteiligung <lb n="pmu_033.006"/> gewachsen wären. Auch im Volkslied steckt oft recht viel bewußte <lb n="pmu_033.007"/> Kunstfertigkeit. Zweitens aber ist die Art des Entstehens für den Wert <lb n="pmu_033.008"/> eines Werkes ganz gleichgültig. Es kommt nur auf die Wirkung des vollendeten <lb n="pmu_033.009"/> Kunstwerkes an. Falls es den bewußten, reflektierenden Dichtern <lb n="pmu_033.010"/> von Volksliedern nur gelungen ist, alle Spuren dieser reflektierenden Tätigkeit <lb n="pmu_033.011"/> auszulöschen, so kann die Wirkung eines solchen Werkes ebenso rein <lb n="pmu_033.012"/> sein, wie die eines wirklichen Volksliedes. — Heine z. B. war sicherlich <lb n="pmu_033.013"/> das Gegenteil eines naiven Menschen, und doch ist es ihm durch seine <lb n="pmu_033.014"/> bewußte, große Kunst gelungen, Gedichte zu schaffen, die als naive Werke <lb n="pmu_033.015"/> im besten Sinne empfunden worden sind.</p> <lb n="pmu_033.016"/> </div> <div n="3"> <p> 12. Als der am nächsten liegende Gegensatz stellte sich auf diesem Gebiete <lb n="pmu_033.017"/> des Gefühlslebens uns der zwischen solchen Jndividuen dar, bei <lb n="pmu_033.018"/> denen im allgemeinen die Lustgefühle, und solchen, bei denen die Unlustgefühle <lb n="pmu_033.019"/> überwiegen. Wir bezeichnen diesen Gegensatz als den der <hi rendition="#g">Optimisten</hi> <lb n="pmu_033.020"/> und <hi rendition="#g">Pessimisten.</hi> Nicht überall liegt die „Gefühlsschwelle“ <lb n="pmu_033.021"/> gleich. Manchen Jndividuen werden Erlebnisse zum Schmerz, die andern <lb n="pmu_033.022"/> noch Lust bereiten können.</p> <lb n="pmu_033.023"/> <p> Auch in der Dichtkunst treten diese beiden Typen deutlich heraus. Und <lb n="pmu_033.024"/> auch hier wieder sind es nicht die Jndividuen allein; auch ganze Epochen <lb n="pmu_033.025"/> sind entweder pessimistisch oder optimistisch. So scheint die Rokokozeit <lb n="pmu_033.026"/> eine Periode des heiteren Optimismus gewesen zu sein, während mit <lb n="pmu_033.027"/> dem 19. Jahrhundert eine Epoche des Weltschmerzes, des „<hi rendition="#aq">mal du <lb n="pmu_033.028"/> siècle</hi>“ einsetzt, was sich in allen Ländern Europas geltend macht. — Auch <lb n="pmu_033.029"/> hier bestehen eine Menge Korrelationen zu früher besprochenen Typen. <lb n="pmu_033.030"/> So sind im allgemeinen die sensiblen Naturen eher zum Pessimismus gestimmt <lb n="pmu_033.031"/> als die Aktiven, die zum Optimismus neigen, was aus der zugrunde <lb n="pmu_033.032"/> liegenden Nervenkonstitution unschwer zu verstehen ist. Denn eine <lb n="pmu_033.033"/> große Empfänglichkeit für Eindrücke pflegt auch die Schmerzempfindlichkeit <lb n="pmu_033.034"/> zu steigern, während umgekehrt die aktiven Naturen eine gewisse <lb n="pmu_033.035"/> Robustheit der ganzen Konstitution zur Voraussetzung haben. Dabei ist <lb n="pmu_033.036"/> jedoch noch zu bedenken, daß insofern die Dichtung nicht unbedingt als <lb n="pmu_033.037"/> Ausdruck der Persönlichkeit angesehen werden darf, da eine kritische Betrachtung <lb n="pmu_033.038"/> oft ergibt, daß Optimismus häufig aus zu Unlust gestimmter </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [33/0043]
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formenden Kunstverstandes. Ganz ohne diesen geht es natürlich pmu_033.002
überhaupt nicht ab. Es ist ein törichter Jrrtum mancher gefühlsseliger pmu_033.003
Theoretiker, als sei es ein Kennzeichen der echten Poesie, daß sie ohne pmu_033.004
jede Verstandeshilfe, bloß aus der Tiefe des Gefühls hervorgebrochen sei. pmu_033.005
Erstens gibt es wohl kaum große Kunstwerke, die ohne Verstandesbeteiligung pmu_033.006
gewachsen wären. Auch im Volkslied steckt oft recht viel bewußte pmu_033.007
Kunstfertigkeit. Zweitens aber ist die Art des Entstehens für den Wert pmu_033.008
eines Werkes ganz gleichgültig. Es kommt nur auf die Wirkung des vollendeten pmu_033.009
Kunstwerkes an. Falls es den bewußten, reflektierenden Dichtern pmu_033.010
von Volksliedern nur gelungen ist, alle Spuren dieser reflektierenden Tätigkeit pmu_033.011
auszulöschen, so kann die Wirkung eines solchen Werkes ebenso rein pmu_033.012
sein, wie die eines wirklichen Volksliedes. — Heine z. B. war sicherlich pmu_033.013
das Gegenteil eines naiven Menschen, und doch ist es ihm durch seine pmu_033.014
bewußte, große Kunst gelungen, Gedichte zu schaffen, die als naive Werke pmu_033.015
im besten Sinne empfunden worden sind.
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12. Als der am nächsten liegende Gegensatz stellte sich auf diesem Gebiete pmu_033.017
des Gefühlslebens uns der zwischen solchen Jndividuen dar, bei pmu_033.018
denen im allgemeinen die Lustgefühle, und solchen, bei denen die Unlustgefühle pmu_033.019
überwiegen. Wir bezeichnen diesen Gegensatz als den der Optimisten pmu_033.020
und Pessimisten. Nicht überall liegt die „Gefühlsschwelle“ pmu_033.021
gleich. Manchen Jndividuen werden Erlebnisse zum Schmerz, die andern pmu_033.022
noch Lust bereiten können.
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Auch in der Dichtkunst treten diese beiden Typen deutlich heraus. Und pmu_033.024
auch hier wieder sind es nicht die Jndividuen allein; auch ganze Epochen pmu_033.025
sind entweder pessimistisch oder optimistisch. So scheint die Rokokozeit pmu_033.026
eine Periode des heiteren Optimismus gewesen zu sein, während mit pmu_033.027
dem 19. Jahrhundert eine Epoche des Weltschmerzes, des „mal du pmu_033.028
siècle“ einsetzt, was sich in allen Ländern Europas geltend macht. — Auch pmu_033.029
hier bestehen eine Menge Korrelationen zu früher besprochenen Typen. pmu_033.030
So sind im allgemeinen die sensiblen Naturen eher zum Pessimismus gestimmt pmu_033.031
als die Aktiven, die zum Optimismus neigen, was aus der zugrunde pmu_033.032
liegenden Nervenkonstitution unschwer zu verstehen ist. Denn eine pmu_033.033
große Empfänglichkeit für Eindrücke pflegt auch die Schmerzempfindlichkeit pmu_033.034
zu steigern, während umgekehrt die aktiven Naturen eine gewisse pmu_033.035
Robustheit der ganzen Konstitution zur Voraussetzung haben. Dabei ist pmu_033.036
jedoch noch zu bedenken, daß insofern die Dichtung nicht unbedingt als pmu_033.037
Ausdruck der Persönlichkeit angesehen werden darf, da eine kritische Betrachtung pmu_033.038
oft ergibt, daß Optimismus häufig aus zu Unlust gestimmter
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