Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_035.001 Und zwar stelle ich, zum Teil in Anlehnung an Ribot, folgende fünf pmu_035.010 Überall aber läßt sich die Jndividualität der Dichter mit ziemlicher pmu_035.020 Als ersten der durch Überwiegen eines Affekts gekennzeichneten Typen pmu_035.029 pmu_035.001 Und zwar stelle ich, zum Teil in Anlehnung an Ribot, folgende fünf pmu_035.010 Überall aber läßt sich die Jndividualität der Dichter mit ziemlicher pmu_035.020 Als ersten der durch Überwiegen eines Affekts gekennzeichneten Typen pmu_035.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0045" n="35"/><lb n="pmu_035.001"/> Reizbarkeit usw., beeinflußt. Jn besonders prägnanter Weise zeigen sich <lb n="pmu_035.002"/> diese Typen in gewissen Formen geistiger Erkrankungen, die ja weiter <lb n="pmu_035.003"/> nichts sind als die pathologischen Steigerungen von Dispositionen, die <lb n="pmu_035.004"/> sich auch im normalen Leben finden. So stellen der Größenwahn, der <lb n="pmu_035.005"/> Verfolgungswahn, die Erotomanie usw. die krankhaften Formen jener <lb n="pmu_035.006"/> noch normalen Verfassungen dar, in denen Stolz, Angst, sexuelle Reizbarkeit <lb n="pmu_035.007"/> besonders stark entwickelt sind und dominierend das übrige psychische <lb n="pmu_035.008"/> Leben beeinflussen.</p> <lb n="pmu_035.009"/> <p> Und zwar stelle ich, zum Teil in Anlehnung an Ribot, folgende fünf <lb n="pmu_035.010"/> Hauptformen der Affekte auf: das Selbstgefühl, besonders in seiner positiven <lb n="pmu_035.011"/> Form als <hi rendition="#g">Stolz,</hi> in seiner negativen als <hi rendition="#g">Demut,</hi> zweitens der <lb n="pmu_035.012"/> Selbsterhaltungstrieb in seiner defensiven Form als <hi rendition="#g">Angst,</hi> drittens der <lb n="pmu_035.013"/> Selbsterhaltungstrieb in seiner aggressiven Form als <hi rendition="#g">Zorn,</hi> viertens die <lb n="pmu_035.014"/> <hi rendition="#g">Sympathie oder Zuneigung</hi> und fünftens, sorgfältig davon zu unterscheiden, <lb n="pmu_035.015"/> wenn auch oft verbunden damit: der <hi rendition="#g">Sexualtrieb.</hi> — Für <lb n="pmu_035.016"/> alle psychischen Veranlagungen, in denen einer dieser Affekte besonders <lb n="pmu_035.017"/> überwiegt, werden sich uns eine Fülle von Beispielen aus der Literatur <lb n="pmu_035.018"/> ergeben.</p> <lb n="pmu_035.019"/> <p> Überall aber läßt sich die Jndividualität der Dichter mit ziemlicher <lb n="pmu_035.020"/> Sicherheit aus den Figuren, besonders den Helden der Dichtungen wiedererkennen. <lb n="pmu_035.021"/> Denn sie sind Fleisch von ihrem Fleisch und Bein von ihrem <lb n="pmu_035.022"/> Bein. Und wenn auch gewiß nicht jede Einzelfigur für eine typische Ausgeburt <lb n="pmu_035.023"/> seiner Phantasie gelten kann, — so wenig man jeden beliebigen <lb n="pmu_035.024"/> Deutschen als Typus seiner Nation ansehen kann, — wenn man die Gesamtheit <lb n="pmu_035.025"/> der Gestalten betrachtet, kommen die typischen Eigenschaften <lb n="pmu_035.026"/> ganz unverkennbar heraus, ebenso wie man hundert Deutsche mit völliger <lb n="pmu_035.027"/> Sicherheit in ihrem Typus von hundert Jtalienern unterscheiden kann.</p> <lb n="pmu_035.028"/> <p> Als ersten der durch Überwiegen eines Affekts gekennzeichneten Typen <lb n="pmu_035.029"/> führe ich denjenigen an, für den die Kunst im wesentlichen nur Darstellung <lb n="pmu_035.030"/> des eigenen <hi rendition="#g">Selbstgefühls</hi> ist, Ausdruck des persönlichen Stolzes, was <lb n="pmu_035.031"/> teils direkt ausgesprochen wird, teils nur aus indirekter Darstellung ersehen <lb n="pmu_035.032"/> werden kann. Es hängt zusammen mit der gesamten Entwicklung <lb n="pmu_035.033"/> des Jndividualgefühls in der neuen Zeit, daß die stärksten und extremsten <lb n="pmu_035.034"/> Fälle derart sich in der Gegenwart finden. Es tritt sehr grell hervor <lb n="pmu_035.035"/> bei Hebbel, dessen Helden alle getragen sind von jenem oft künstlich übersteigerten <lb n="pmu_035.036"/> Selbstgefühl ihres Erzeugers, mögen sie Holofernes, Herodes, <lb n="pmu_035.037"/> Gyges oder wie immer heißen. Auch von Richard Wagner hat man stets <lb n="pmu_035.038"/> behauptet, seine Kunst sei nur eine Selbstglorifizierung seiner Persönlichkeit, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [35/0045]
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Reizbarkeit usw., beeinflußt. Jn besonders prägnanter Weise zeigen sich pmu_035.002
diese Typen in gewissen Formen geistiger Erkrankungen, die ja weiter pmu_035.003
nichts sind als die pathologischen Steigerungen von Dispositionen, die pmu_035.004
sich auch im normalen Leben finden. So stellen der Größenwahn, der pmu_035.005
Verfolgungswahn, die Erotomanie usw. die krankhaften Formen jener pmu_035.006
noch normalen Verfassungen dar, in denen Stolz, Angst, sexuelle Reizbarkeit pmu_035.007
besonders stark entwickelt sind und dominierend das übrige psychische pmu_035.008
Leben beeinflussen.
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Und zwar stelle ich, zum Teil in Anlehnung an Ribot, folgende fünf pmu_035.010
Hauptformen der Affekte auf: das Selbstgefühl, besonders in seiner positiven pmu_035.011
Form als Stolz, in seiner negativen als Demut, zweitens der pmu_035.012
Selbsterhaltungstrieb in seiner defensiven Form als Angst, drittens der pmu_035.013
Selbsterhaltungstrieb in seiner aggressiven Form als Zorn, viertens die pmu_035.014
Sympathie oder Zuneigung und fünftens, sorgfältig davon zu unterscheiden, pmu_035.015
wenn auch oft verbunden damit: der Sexualtrieb. — Für pmu_035.016
alle psychischen Veranlagungen, in denen einer dieser Affekte besonders pmu_035.017
überwiegt, werden sich uns eine Fülle von Beispielen aus der Literatur pmu_035.018
ergeben.
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Überall aber läßt sich die Jndividualität der Dichter mit ziemlicher pmu_035.020
Sicherheit aus den Figuren, besonders den Helden der Dichtungen wiedererkennen. pmu_035.021
Denn sie sind Fleisch von ihrem Fleisch und Bein von ihrem pmu_035.022
Bein. Und wenn auch gewiß nicht jede Einzelfigur für eine typische Ausgeburt pmu_035.023
seiner Phantasie gelten kann, — so wenig man jeden beliebigen pmu_035.024
Deutschen als Typus seiner Nation ansehen kann, — wenn man die Gesamtheit pmu_035.025
der Gestalten betrachtet, kommen die typischen Eigenschaften pmu_035.026
ganz unverkennbar heraus, ebenso wie man hundert Deutsche mit völliger pmu_035.027
Sicherheit in ihrem Typus von hundert Jtalienern unterscheiden kann.
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Als ersten der durch Überwiegen eines Affekts gekennzeichneten Typen pmu_035.029
führe ich denjenigen an, für den die Kunst im wesentlichen nur Darstellung pmu_035.030
des eigenen Selbstgefühls ist, Ausdruck des persönlichen Stolzes, was pmu_035.031
teils direkt ausgesprochen wird, teils nur aus indirekter Darstellung ersehen pmu_035.032
werden kann. Es hängt zusammen mit der gesamten Entwicklung pmu_035.033
des Jndividualgefühls in der neuen Zeit, daß die stärksten und extremsten pmu_035.034
Fälle derart sich in der Gegenwart finden. Es tritt sehr grell hervor pmu_035.035
bei Hebbel, dessen Helden alle getragen sind von jenem oft künstlich übersteigerten pmu_035.036
Selbstgefühl ihres Erzeugers, mögen sie Holofernes, Herodes, pmu_035.037
Gyges oder wie immer heißen. Auch von Richard Wagner hat man stets pmu_035.038
behauptet, seine Kunst sei nur eine Selbstglorifizierung seiner Persönlichkeit,
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