Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_036.001 Neben dem gesteigerten Selbstgefühl kommt das geminderte, die Demut, pmu_036.019 Der negative, defensive Selbsterhaltungsinstinkt äußert sich vor allem pmu_036.024 "Meine Dichterglut war sehr gering, pmu_036.028 pmu_036.031Solang ich dem Guten entgegen ging: pmu_036.029 Dagegen brannte sie lichterloh, pmu_036.030 Wenn ich vor drohendem Übel floh." Jn der Tat sehen wir, daß in den meisten Fällen, wo die Furcht als Motiv pmu_036.032 pmu_036.001 Neben dem gesteigerten Selbstgefühl kommt das geminderte, die Demut, pmu_036.019 Der negative, defensive Selbsterhaltungsinstinkt äußert sich vor allem pmu_036.024 „Meine Dichterglut war sehr gering, pmu_036.028 pmu_036.031Solang ich dem Guten entgegen ging: pmu_036.029 Dagegen brannte sie lichterloh, pmu_036.030 Wenn ich vor drohendem Übel floh.“ Jn der Tat sehen wir, daß in den meisten Fällen, wo die Furcht als Motiv pmu_036.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0046" n="36"/><lb n="pmu_036.001"/> und in den Meistersingern z. B. tritt derartiges auch in der Dichtkunst <lb n="pmu_036.002"/> deutlich hervor. Am extremsten vielleicht wird dieser Typus durch <lb n="pmu_036.003"/> den Zarathustra Nietzsches vertreten, der dann reichlich Schule gemacht <lb n="pmu_036.004"/> hat. Zum Teil, wenn auch wohl nur zum Teil, sind auf seinen Einfluß <lb n="pmu_036.005"/> zurückzuführen die Entwicklung von Dichtern wie Dehmel, Stefan George, <lb n="pmu_036.006"/> D'Annunzio und vieler andern. Daß dieses gesteigerte Selbstgefühl oft <lb n="pmu_036.007"/> das Produkt einer Zwangslage ist, eine Art Schutzwehr gegen Verkennung <lb n="pmu_036.008"/> und Mißachtung, gilt von diesem speziellen Affekte sowohl wie von <lb n="pmu_036.009"/> der optimistischen Lebensstimmung im allgemeinen. Dabei liegt es uns <lb n="pmu_036.010"/> fern, diese Art der Dichtung etwa gering zu werten, wie es oft geschehen <lb n="pmu_036.011"/> ist; denn es kann ein edler Kern liegen in dieser Tendenz zur Steigerung <lb n="pmu_036.012"/> der eigenen Persönlichkeit, wie denn überhaupt diese ganze moderne Tendenz <lb n="pmu_036.013"/> mit dem Entwicklungsgedanken eng verknüpft ist und das „Jch“, <lb n="pmu_036.014"/> das der Dichter darstellt, mehr das Jch seiner Sehnsucht als das seiner <lb n="pmu_036.015"/> Wirklichkeit ist. Es ist darum töricht, diesen Dichtern immer wieder den <lb n="pmu_036.016"/> Vorwurf der Selbstüberhebung zu machen. Für die ästhetische Bewertung <lb n="pmu_036.017"/> ist das ganz gleichgültig.</p> <lb n="pmu_036.018"/> <p> Neben dem gesteigerten Selbstgefühl kommt das geminderte, die <hi rendition="#g">Demut,</hi> <lb n="pmu_036.019"/> verhältnismäßig wenig in Betracht. Meist vermischt sich dies Gefühl <lb n="pmu_036.020"/> mit der Furcht, wie in der Zerknirschungspoesie des Mittelalters, <lb n="pmu_036.021"/> und wir können daher diese Dichter mit den nun folgenden gemeinsam <lb n="pmu_036.022"/> behandeln.</p> <lb n="pmu_036.023"/> <p> Der negative, defensive Selbsterhaltungsinstinkt äußert sich vor allem <lb n="pmu_036.024"/> in der <hi rendition="#g">Angst.</hi> Diese ist ein überaus wichtiger Affekt für den Dichter, d. h. <lb n="pmu_036.025"/> streng genommen ist die Angst selber nicht schöpferisch, sondern die Reaktion <lb n="pmu_036.026"/> dagegen. Goethe bekennt von sich:</p> <lb n="pmu_036.027"/> <lg> <l>„Meine Dichterglut war sehr gering,</l> <lb n="pmu_036.028"/> <l>Solang ich dem Guten entgegen ging:</l> <lb n="pmu_036.029"/> <l>Dagegen brannte sie lichterloh,</l> <lb n="pmu_036.030"/> <l>Wenn ich vor drohendem Übel floh.“</l> </lg> <lb n="pmu_036.031"/> <p>Jn der Tat sehen wir, daß in den meisten Fällen, wo die Furcht als Motiv <lb n="pmu_036.032"/> des Dichtens erscheint, noch irgendwelche Momente damit verknüpft sind, <lb n="pmu_036.033"/> die dazu geeignet sind, die Furcht aufzuheben. Das ist vor allem dort der <lb n="pmu_036.034"/> Fall, wo die Furcht ein Bestandteil religiöser Gefühle ist, was sie auf niederer <lb n="pmu_036.035"/> Stufe vorwiegend ist. Hier erscheint die Aussprache und Darstellung <lb n="pmu_036.036"/> der Angst als Demütigung vor den Göttern, vor dem Schicksal, und eben <lb n="pmu_036.037"/> durch diese Aussprache erhofft man Linderung. — Daher die ungeheure <lb n="pmu_036.038"/> Verbreitung jener religiösen Poesie, von den Psalmen und den attischen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [36/0046]
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und in den Meistersingern z. B. tritt derartiges auch in der Dichtkunst pmu_036.002
deutlich hervor. Am extremsten vielleicht wird dieser Typus durch pmu_036.003
den Zarathustra Nietzsches vertreten, der dann reichlich Schule gemacht pmu_036.004
hat. Zum Teil, wenn auch wohl nur zum Teil, sind auf seinen Einfluß pmu_036.005
zurückzuführen die Entwicklung von Dichtern wie Dehmel, Stefan George, pmu_036.006
D'Annunzio und vieler andern. Daß dieses gesteigerte Selbstgefühl oft pmu_036.007
das Produkt einer Zwangslage ist, eine Art Schutzwehr gegen Verkennung pmu_036.008
und Mißachtung, gilt von diesem speziellen Affekte sowohl wie von pmu_036.009
der optimistischen Lebensstimmung im allgemeinen. Dabei liegt es uns pmu_036.010
fern, diese Art der Dichtung etwa gering zu werten, wie es oft geschehen pmu_036.011
ist; denn es kann ein edler Kern liegen in dieser Tendenz zur Steigerung pmu_036.012
der eigenen Persönlichkeit, wie denn überhaupt diese ganze moderne Tendenz pmu_036.013
mit dem Entwicklungsgedanken eng verknüpft ist und das „Jch“, pmu_036.014
das der Dichter darstellt, mehr das Jch seiner Sehnsucht als das seiner pmu_036.015
Wirklichkeit ist. Es ist darum töricht, diesen Dichtern immer wieder den pmu_036.016
Vorwurf der Selbstüberhebung zu machen. Für die ästhetische Bewertung pmu_036.017
ist das ganz gleichgültig.
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Neben dem gesteigerten Selbstgefühl kommt das geminderte, die Demut, pmu_036.019
verhältnismäßig wenig in Betracht. Meist vermischt sich dies Gefühl pmu_036.020
mit der Furcht, wie in der Zerknirschungspoesie des Mittelalters, pmu_036.021
und wir können daher diese Dichter mit den nun folgenden gemeinsam pmu_036.022
behandeln.
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Der negative, defensive Selbsterhaltungsinstinkt äußert sich vor allem pmu_036.024
in der Angst. Diese ist ein überaus wichtiger Affekt für den Dichter, d. h. pmu_036.025
streng genommen ist die Angst selber nicht schöpferisch, sondern die Reaktion pmu_036.026
dagegen. Goethe bekennt von sich:
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„Meine Dichterglut war sehr gering, pmu_036.028
Solang ich dem Guten entgegen ging: pmu_036.029
Dagegen brannte sie lichterloh, pmu_036.030
Wenn ich vor drohendem Übel floh.“
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Jn der Tat sehen wir, daß in den meisten Fällen, wo die Furcht als Motiv pmu_036.032
des Dichtens erscheint, noch irgendwelche Momente damit verknüpft sind, pmu_036.033
die dazu geeignet sind, die Furcht aufzuheben. Das ist vor allem dort der pmu_036.034
Fall, wo die Furcht ein Bestandteil religiöser Gefühle ist, was sie auf niederer pmu_036.035
Stufe vorwiegend ist. Hier erscheint die Aussprache und Darstellung pmu_036.036
der Angst als Demütigung vor den Göttern, vor dem Schicksal, und eben pmu_036.037
durch diese Aussprache erhofft man Linderung. — Daher die ungeheure pmu_036.038
Verbreitung jener religiösen Poesie, von den Psalmen und den attischen
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